Auf 35 m2

Der Kult um das Praktische, Pragmatische und Platzsparende: Ikea rückt Menschen zusammen. Von Holm Friebe, erschienen am 28. September 2002 in der Berliner Zeitung.

Der neue Ikea-Katalog ist da. Mit einer weltweiten Gesamtauflage von mehr als 100 Millionen Exemplaren bewegt er sich in Regionen, in die nicht mal Harry Potter kommt. Gleichzeitig wird die seismografische Qualität dieses Druckerzeugnisses und der dahinter sich erschließenden Welt immer noch gern verkannt.

Wohl findet das Ereignis gelegentlich seinen Nachhall in den Feuilletons. Der eine oder andere Autor nimmt aus Langeweile oder Ratlosigkeit gern mal das handliche, knapp 400-seitige Druckwerk zur Hand, fischt – in krasser Fehleinschätzung der eigenen Originalität – die schönsten Neologismen heraus und bastelt eine Glosse daraus. Es ist herzlich einfach; man muss lediglich das Besteckset “Förnuft” erwähnen, die TV-Wandhalterung “Observatör” einflechten oder den Aufblashocker “Trotsig” zitieren – fertig ist der “Lack” (Beistelltisch). Der herbe Charme jenes eigentümlichen Kunstvokabulars – eine elaborierte Mischung aus archaischem Wikingerisch und infantiler Lautverschiebung – bleibt damit aber unerklärt und ungewürdigt.

Auch äußert man sich gern anekdotisch und mokant über die eigentliche Unmöglichkeit des Heimzusammenbaus. Dabei wirft das eher ein bezeichnendes Licht auf das Ungeschick der Autoren, die offenbar glauben, ein Mangel an handwerklichen Fähigkeiten würde ein Plus beim geistigen Kredit verursachen, den man ihnen einzuräumen bereit ist. Jeder, der einen Inbusschlüssel halten und einen Wahlzettel ausfüllen kann, sollte auch in der Lage sein, nach Anleitung ein Billy-Regal zu montieren.

Außerdem zielen derlei Ressentiments weit an dem vorbei, was den Ikea-Katalog in den Stand eines Kulturgutes erhebt. Wenn, wie Hans Magnus Enzensberger in den 60ern schrieb, der Quelle-Katalog “die letzte historische Variante der Enzyklopädie” ist, dann ist der Ikea-Katalog komplementär dazu ein Spiegel unserer inneren Befindlichkeiten, Sorgen und Sehnsüchte. Zur profanen Wohnidee gesellt sich erhabene Sinnstiftung eines auf das Wesentliche reduzierten Lebens, ohne überflüssigen Ballast und in geordneten Bahnen. “Simplicity” wäre der passende Anglizismus dazu – der Trend zur Vereinfachung, der bei Ikea freilich immer schon in dem Konzept vom “demokratischen Design” inbegriffen war. Und der aktuelle Ikea-TV-Spot unterstreicht diese Sehnsucht, indem er fragt “Wohnst du noch oder lebst du schon?”

Der alljährliche Katalog verfügt jedoch noch über ganz eigene, intime Qualitäten, die im Rezeptionsästhetischen schlummern. Schon beim ersten Aufblättern überfällt einen üblicherweise jenes Gefühl “grober Behaglichkeit”, wie es Ernst Jünger nur beim Konsum von Bier verspürte. Das Gefühl, man könne, allein angestiftet durch die erhebende Lektüre, sich völlig neu erfinden und mit einem Schlag sein Leben renovieren. Die Überreste des alten Lebens würde man in den praktischen Kisten verstauen, die Ikea exklusiv vorhält. Vielleicht ist das Verstauen und mehr noch das Verstauthaben das eigentliche Alleinstellungsmerkmal der Marke. Mithin auch eine mögliche Begründung, warum das 1948 vom kauzigen Schweden Ingvar Kamprad gegründete Möbelhaus entgegen allen Trends weltweit expandiert. Natürlich wissen wir, dass wir niemals so aufgeräumt leben werden wie die Menschen im Katalog, dass die Deckel über der Vergangenheit niemals hermetisch abschließen. Aber, wie der inzwischen 76-jährige Multimilliardär Kamprad einmal formulierte: “Das Glück besteht nicht darin, sein Ziel zu ereichen, sondern auf dem Weg dorthin zu sein.”

Der Weg dorthin führt im Katalog über eine redaktionell gestaltete Strecke, die jeweils eine Facette des Warenangebots thematisch nach vorn spielt. Hier brechen sehr subtil Zeitgeist und Gegenwartsströmungen in das zeitlose Idyll nordischer Einfachheit. Standen die Kataloge der letzten Jahre noch ganz unter dem Eindruck der inzwischen kollabierten New Economy, indem sie die zwanglose Einheit von Leben und Arbeit in praktischen Kombilösungen für die allein erziehende Ich-AG oder den multiflexiblen Telearbeiter propagierten, schlägt “Ikea 2003″ einen anderen Tenor an. “Lebe hoch 3!” heißt das diesjährige Motto.

Und bei Ikea nimmt man die neue Kubik-Potenz wörtlich: “Wir haben aufgehört, flach zu denken und angefangen, Räume aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Einer Perspektive, die beim Einrichten nicht nur den Boden, sondern auch alle Wände bis unter die Decke mit einbezieht”, heißt es zum Geleit. Das erinnert an Terry Pratchetts Scheibenwelt, in der den zweidimensionalen Bewohnern erst von einem höheren Wesen das Bewusstsein für die dritte Raumdimension geöffnet werden musste. Ein Vergleich, in dem sich der visionäre Firmengründer – der in seiner Jugend für die schwedischen Nationalsozialisten schwärmte und dessen Schriften zur Mitarbeitermotivation sich bisweilen wie das Brevier einer Psychosekte lesen – sicher gern wiederfände.

Nun hat es das praktische Stapeln als Unterdisziplin des Verstauens bei Ikea schon immer gegeben. Auch tauchten stets clevere Einrichtungsbeispiele für studentische Miniappartements auf. Mit dem neuen Kunstgriff aber stoßen die Katalog-Autoren in eine andere Dimension auch bewusstseinstechnisch vor. Am Beispiel klingt das dann so: “Auf 35 m2 können Sie ein Wohnzimmer, ein Esszimmer, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer und ein Arbeitszimmer unterbringen. Und es bleibt sogar noch Platz für Entspannung, Freunde und Fantasie.”

Doch ist es nicht ein bisschen arg dick – um nicht zu sagen dreidimensional – aufgetragen? Bei den begleitenden Fotos der Musterwohnung stellen sich leichte Zweifel und ein gelindes Unbehagen ein. Sie erinnert an jene bis unter die Decke ausgenutzten Schubladenapartments in Manhatten, deren Bewohner alles, was sie nicht länger als zwei Wochen benötigen, in einen Speditionscontainer in Williamsburg auslagern. Man ahnt: Die kleinste Unordnung, Schlampigkeit oder Nachlässigkeit hätte den unmittelbaren Kollaps des fragil austarierten Wohnsystems zur Folge. Spätestens der Grundriss und die Vorstellung, dass eine vierköpfige Familie darin leben soll, lässt an die Nachkriegszeit im zerbombten Deutschland denken, als auch mehrere Generationen auf 35 Quadratmetern wohnen mussten.

Dieser übertriebene Kult um das Praktische, Pragmatische und Platzsparende passt hervorragend in die rezessionsgebeutelte Zeit, in der die Menschen zusammenrücken. Und dass, obwohl der Trend zu mehr Wohnfläche pro Person in Deutschland ungebrochen anhält. Die neue Tonalität lässt sich demnach kaum anders als mit einem Mentalitätswandel erklären, der sich in einem Gefühl metaphysischer Enge, gleichzeitig in einem Bedürfnis nach Nähe, Familie und Geborgenheit manifestiert – nicht zuletzt in dem Fantasma, eine Großfamilie in eine einzige Singlewohnung zu stopfen. Es scheint, als sei das Bewusstsein einer allgemeinen Krise nun auch bei Ikea angekommen. Wenn auch nur im neuen Katalog. Und dort auch nur zwischen den Zeilen.

In der Berliner Zeitung.

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