Aus der Welt gefallen

Ein Portrait des Künstlers  als nicht mehr ganz so junger Mann. Holm Friebes persönlicher Nachruf auf Wolfgang Herrndorf, erschienen am 1.9.2013 in der Welt am Sonntag.
Wir waren die Jungs von der letzten Bank. Das erste Mal begegnet sind wir uns auf der Rückbank eines geräumigen Family-Vans, der eine Fuhre Autoren und Zeichner nach einer “Titanic”-Buchmessenparty von Frankfurt nach Berlin verbrachte. 1995 muss das gewesen sein. Beide waren wir Außenseiter, ich, weil ich, jung und schüchtern, gerade erst mit dem Schreiben begonnen hatte. Wolfgang, weil er aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit stammte. Ich kannte seine Cover und Illustrationen, die er damals für die “Titanic” anfertigte: elaborierte Gemälde satirischen und blasphemischen Inhaltes. Oft waren es Pastiches alter Meister, etwa Helmut Kohl im Stile von Vermeer, die davon lebten, dass sie im Herstellungsaufwand dem Original kaum nachstanden.

Die Mal- und Lasurtechniken hatte er sich im Selbststudium an der Kunsthochschule Nürnberg beigebracht. Unter Professoren und Kommilitonen, die die Selbstakklamation des zeitgenössischen Avantgardekünstlers einstudierten und die künstlerische “Position” höher einstuften als das Handwerk, muss er ein regelrechter Alien gewesen sein. Es gibt ein Selbstporträt in Öl aus jener Zeit, das ihn mit zerrissenem T-Shirt und Bohrmaschine zeigt, Zeigefinger und kleinen Finger der rechten Hand abgespreizt, wie man es aus mittelalterlichen Jesusdarstellungen kennt. Aby Warburg hätte seine Freude an dieser klassischen Pathosformel gehabt.

An einem Porträt seiner Großmutter im Stile Holbeins hat er über ein Semester lang gearbeitet. Seine apodiktische Ablehnung gegenüber 99 Prozent der Kunstgeschichte (und 100 Prozent der modernen und zeitgenössischen Kunst) speiste sich aus handwerklicher Durchdringung. Als wir einmal um die Jahrtausendwende zusammen die National Gallery in London besuchten, ließ er ganze Gebäudetrakte voll mit Rembrandt, Rubens und anderen links liegen und steuerte zielstrebig auf die “Arnolfini-Hochzeit” von van Eyck zu. Van Eyck konnte er gelten lassen als einen, der seiner Zeit hundert Jahre voraus war, “danach kam erst mal lange Zeit wieder nur Schrott”.

Auch als er Anfang der Neunziger nach Berlin übergesiedelt war, wie wir alle damals, blieb Wolfgang ein Sonderling. Auf der Party zu meinem 26. Geburtstag, die später in den “Plüschgewittern” nur leicht entstellt auftauchen sollte, lernten sich Kathrin Passig und Wolfgang kennen. Sie waren sich schon vorher flüchtig begegnet. In einem ausführlichen Bericht an ihre Verlobte Ira Strübel schrieb Passig danach, sie habe diesen seltsam eigenbrötlerischen Zeichner geküsst, dessen “Lippen wie Sofakissen” seien. Gemeinsam hätten sie dann in den frühen Morgenstunden die Party verlassen. An der Straßenecke sei Passigs Satz “Eigentlich muss ich jetzt da lang” unwidersprochen geblieben, jeder sei zu sich nach Hause: der prosaische Beginn einer großen Hassliebe zweier Quasi-Autisten, bei der zuletzt die Liebe überwog.

Was beide neben einem unbestechlichen Intellekt verband, ist eine Sonderform des mathematischen Denkens, die die Herausforderung durch kniffelige Logikrätsel und Strategiespiele sucht. Wenn ich ihn besuchte, spielten wir Schach. Es gab eine Liste. Wolfgang gewann fast immer. Am Ende, als die Liste einschlief, stand es 120 zu 13. Wie Passig hatte er sich, was die wenigsten wissen, selbst Programmieren beigebracht. Einmal, als ich zu ihm kam, lief auf dem Schwarz-Weiß-Bildschirm seines 386er-Rechners ein Spiel, bei dem man mit einem Katapult die Stadt des Gegners zerstören musste, ein früher Vorläufer von “Angry Birds”. Wolfgang hatte es in tagelanger Arbeit selbst programmiert. So etwas machte er nebenbei, und es bedeutete ihm nicht viel. Vermutlich wird er das Spiel unsentimental mit dem Rechner entsorgt haben, wie er viele Bilder und Texte, die eigentlich nach Marbach gehört hätten, in der Badewanne eingeweicht und in den Müll geschmissen hat. Nur das Gültige sollte überleben.

Vermutlich wären beide, Passig und Herrndorf, sehr viel kauzigere Nerds geworden, wenn nicht in der zweiten Hälfte der Neunziger das Internet auf den Plan getreten wäre. Das Internetforum “Höfliche Paparazzi” wurde um die Jahrtausendwende herum zu einem Sammelbecken für Menschen mit einem gemeinsamen Interesse an klugen Gedanken und handwerklich gut gemachten Sätzen – und zu einer unglaublichen Sozialmaschine, lange bevor das soziale Internet mit Facebook zu einem Massenphänomen werden sollte.

Die oberste Regel des Forums lautet: Es gilt das geschriebene Wort, ohne Ansehen der Person (wie auch, in einem reinen Textmedium). So entstand eine fröhliche Parallelwelt in der Staatsform der Meritokratie: Die härtere Pointe und das rigorosere Urteil regierten. Darin konnten Menschen unterschiedlichen Schlages Freunde werden, auch solche, die nur ungern die Wohnung verließen. Bis zum Schluss war das Forum Wolfgangs Hinterland und Resonanzraum für sein Schreiben. Auch wenn er ein unglaublich belesener Solitär war, der aus der Tiefe des literarischen Raums kam – seine Hausgötter waren Stendhal, Nabokov, Salinger, Ágota Kristóf, von den Zeitgenossen schätzte er besonders Karen Duve und Rainald Goetz –, kann man behaupten, dass seine Bücher ohne das Forum nicht entstanden wären, so wie es laut einer unter amerikanischen Konservativen verbreiteten Weisheit ein Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen. (Nicht zuletzt hat die deutsche Gegenwartsliteratur davon profitiert, dass der Bachmannpreis im Forum sehr ernst genommen und stets live kommentiert wurde, insbesondere wenn jemand aus den eigenen Reihen dort antrat.)

Von einem Tag auf den anderen hatte Wolfgang die Malerei gegen das Schreiben getauscht und danach nie wieder einen Pinsel angefasst. Aber eigentlich hatte er nur das Ausgabeformat gewechselt. In der Literatur konnte er die handwerkliche Akribie besser kombinieren mit seinem mathematischen Intellekt, der ans Programmieren doch nur verschenkt war, und dem größten Logikrätsel von allen nachspüren. Im letzten Satz seiner Erzählung “Diesseits des Van-Allen-Gürtels”, mit der er 2004 in Klagenfurt in der Gegenwartsliteratur aufschlug, liegt der Icherzähler im Bett, “als würde auf jeden Quadratzentimeter meiner Haut ein präziser hydraulischer Druck ausgeübt, der meinen Körper in genau die Form presste, die die Natur ursprünglich für ihn vorgesehen hatte, ein unendliches Glücksgefühl, verdammt zur Bewegungslosigkeit für die nächsten Stunden, für die Nacht, für die nächsten fünf Milliarden Jahre, unter meinem Fenster, unter dem grünen Himmel, unter dem Mond, in einem sonderbar unverständlichen Universum wie diesem.”

Für die Literaturproduktion wurde die Staffelei zum Flipchart umfunktioniert, an dem er mit Post-it-Zetteln die raffiniert verschachtelten Plots baute, auf die Spitze getrieben im Rätselroman “Sand”. Die einzelnen Sätze aber tupfte er mit dem Haarpinsel und ging so lange, Schicht um Schicht, darüber, bis seltsam anrührende sprachliche Trompe-l’Œiles entstanden wie das oben zitierte.

Die Staffelei und der Rechner, ein Ohrensessel, ein Bücherregal, ein Schreibtisch und ein Bett standen die längste Zeit, die ich Wolfgang gekannt habe, in einer Hinterhofwohnung in Mitte, die im Wesentlichen aus einem düsteren Berliner Zimmer bestand und sich passenderweise in der Novalisstraße befand. Was die profanen Dinge des Lebens anging, war Wolfgang Asket. Hat er jemals etwas anderes gegessen als vorgeschnittene Graubrotscheiben, Pizza-Baguettes und Texas-Eintopf? Eine Schale Heidelbeeren markierte für ihn den puren Luxus. Dieser Lebensstil ermöglichte ihm das ökonomisch flache Atmen, das Durchtauchen unter dem Existenzminimum, was ihn unangreifbar und künstlerisch unkorrumpierbar machte. Einzig der tagein, tagaus Rammstein und Prolltechno hörende Nachbar nervte.

Eine der aberwitzigen Pointen seines Lebens ist – viele Nachrufe haben das bemerkt –, dass er gegen Ende seines Lebens mehr Geld zur Verfügung hatte, als er jemals würde ausgeben können. Dazu fehlte ihm jegliche Fantasie. Lediglich gönnte er sich, um dem Nachbarn zu entkommen, zuletzt ein Dachgeschoss im Wedding, direkt am Kanal und mit Blick Richtung Fernsehturm und Plötzensee. Am Ende erfüllt aber auch der ökonomische Erfolg seinen Sinn und Zweck. Spät gestand er, dem Geld wirklich nie etwas bedeutete, mir ein ungeahntes bürgerliches Sentiment: Es bereite ihm ein gutes Gefühl, seiner Frau Carola, die selbst erfolgreiche Schriftstellerin und Kinderbuchautorin ist, eine ordentliche Summe hinterlassen zu können. Auch einige seiner engen Prekariatsfreunde wurden testamentarisch bedacht.

Nein, man kann Wolfgangs Schicksal, in der Lebensmitte abberufen worden zu sein, nicht schönreden. Nichts daran ist schön. Dennoch hatte der bösartige Tumor in seinem Kopf auch gutartige Seiten. Nicht weil er den Scheinwerferkegel einer sensationshungrigen Öffentlichkeit auf den lichtscheuen Autor lenkte und seinen Büchern damit zu Millionenauflagen verhalf. Sofern es keinen sadistischen Gott gibt, hätten sie diesen Erfolg früher oder später qua Qualität ohnehin erlangt. Sondern weil er Wolfgang half, Dinge geregelt zu kriegen.

Wie die meisten Großen der Literatur war Wolfgang ein Athlet des Zauderns. Seine Skrupulosität entsprach seinem akribischem Perfektionismus. Trotz seiner protestantischen und preußischen Arbeitsdisziplin konnte er Wochen damit zubringen, an einem Tag ein Komma zu setzen, welches er am darauffolgenden wieder entfernte. Der Tumor wurde zum Turbo, der ihn seine beiden großen Romane “Tschick” und “Sand” in kurzer Abfolge fertigstellen ließ. Beide Bücher verkörpern – wie Gustav Seibt und Jens Bisky in der “SZ” gut erkannt haben – zwei Seiten der Romantik, “Tschick” die heitere, “Sand” die schwarze, die beide auch in Wolfgang steckten.

Der Titel seines Blogs “Arbeit und Struktur” geht zurück auf ein Gespräch, das Wolfgang kurz nach seiner Diagnose mit dem Vater eines Bekannten führte, einem Richter und Glioblastom-Langzeitüberlebenden. Als Rezept zum Umgang mit der Bestie vertraute dieser ihm an: weiter arbeiten wie bisher, nur noch fokussierter! Arbeit und Struktur!

So hat er es gehalten, bis es nicht mehr ging. Nachdem Wolfgang im Herbst 2011, damals konnte er noch ins Kino gehen, in Andreas Dresens “Halt auf freier Strecke” sein Spiegelbild geschaut hatte – Milan Peschel spielt darin bestürzend ungeschönt das Siechtum eines Hirntumorpatienten bis zum bitteren Schluss –, verkündete er aufgeräumt, dass er sich und seinen Freunden diese letzte Meile ersparen werde. Das auktoriale Ende hat er sich nicht nehmen lassen. Und eine kleine Delle ins Universum geschlagen.

Dank an Cornelius Reiber, Philipp Albers und Christian Y. Schmidt.

In der WamS

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