Das Prinzip Uruguay

Kultur ist das einzige, was Berlin kann. Gregor Gysi wird versuchen, diese vermeintliche Schwäche in eine Stärke umzudefinieren. Von Holm Friebe, erschienen am 16.01.2002 in Jungle World.

 

Wir müssen uns Uruguay als ein glückliches Land vorstellen, das nicht von ungefähr die “Schweiz Lateinamerikas” genannt wird. Dem Göttinger Politologen Claus Leggewie gilt es in seinem Buch “Die 89er” gar als Vorbild für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft zur “Reparaturgesellschaft”, der auf Initiative und Betreiben der 89er-Generation zustande kommen soll: “Wer in diese Nische der Weltgesellschaft kommt, hat zunächst den Eindruck, als sei die Zeit stehengeblieben, aber nicht im Zustand eines fernen Mittelalters oder durch einen Rückfall in die Unterentwicklung, sondern als freiwillige Stagnation in den vierziger, fünfziger Jahren. In den Kramläden und Werkstätten Montevideos findet man jedes Ersatzteil für jeden Schaden. In der gemächlichen Stadt am Rio de la Plata fahren Automodelle der vierziger Jahre so gut wie neu umher. Ihre Verbringung auf den ‘Autofriedhof’ wird durch ständige Werkelei endlos hinausgezögert. Uruguay hat noch das Gedächtnis und die Werkzeuge, um so wenig wie möglich kaputt gehen zu lassen. Wohlgemerkt: Dieses konservative Wissen hat sich eine relativ reiche Gesellschaft bewahrt, die freiwillig auf den vollständigen Anschluss ans Weltniveau verzichtet.”

 

Zugegeben, ein – unabhängig vom Anspruch auf Realität – verlockendes 68er-Idyll, auch wenn von den 89ern heute längst niemand mehr redet, und diese Jahrgänge auch unter der Nachfolgebezeichnung “Generation Berlin” eigentümlich farblos blieben. Vom Umbau zur Reparaturgesellschaft einmal ganz zu schweigen. Aber das wird ja vielleicht jetzt alles anders. Jetzt wo Gregor Gysi Berliner Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen wird. “Diese Stadt ist so pleite, dass man sie auch uns anvertrauen kann”, hatte Gysi im Wahlkampf gesagt. Nun hat er zwar nicht das Finanzressort bekommen, aber immerhin doch eines, wo man etwas kaputt machen könnte, wenn es noch etwas kaputt zu machen gäbe.

 

Nun wird Gysi also Miss Wirtschaft. Und für Günter Rexrodt, der laut FDP-Wahlplakat eigentlich “Mister Wirtschaft statt Misswirtschaft” hätte werden wollen, geht schon mal prophylaktisch das Abendland unter. Der neue Senat sei “eine Gefahr für ganz Berlin”, und der Traum der PDS von “einer fest etablierten Linkspartei und von einem neuen sozialistischen Experiment in ganz Deutschland scheint aufzugehen”. Ein sozialistisches Experiment in ganz Deutschland? Schön wär’s. Aber was will Gysi wirklich? Was führt er im Schilde, wenn er sich in die aussichtslosen Niederungen der Investorenakquise und des Standortmarketings begibt?

 

Dass der bekennende Schöngeist sich gegen das Kulturressort entschied, wo Mangel und Niedergang lediglich verwaltet werden, entbehrt nicht einer gewissen Logik. Den Job macht jetzt, weil der ehemalige Bundesvorsitzende und humanistische Bildungsbürger Lothar Bisky aus verständlichen Gründen keine Lust darauf hatte, der ehemalige Baustadtrat von Mitte und bekennende Plattenbaufan Thomas Flierl. Als politisch und historisch korrekter Linker mit bürokratischen Steherqualitäten entspricht er vollends dem Klischee des Investorenschrecks, wie es Rexrodt und Konsorten an die Wand malen, könnte sich aber im täglichen Graubrotbusiness der Etatverhandlungen als verlässlicher Verhinderer der schlimmsten Hauptstadtsünden, vulgo: Geschichtsrevision qua Entsorgung der DDR und deutscher Vergangenheit entpuppen.

 

Gysi hat stattdessen, seinen natürlichen Begabungen und Neigungen folgend, den Job des Impresarios und großen Kommunikators gewählt, dem es bei aller Mittel- und Folgenlosigkeit zusteht, Utopien und Visionen zu haben und zu verkünden. Und er hat seine Vision bereits verkündet. Er will das Wirtschaftsressort nutzen, um wirklich Kultur zu machen, was im Kulturressort ja längst nicht mehr möglich ist. Damit verbreitet Gysi eine schlichte Wahrheit über die Stadt, die im Zuge der euphorischen Nachwendeprognosen aus dem Blick geraten ist: Industrieansiedlung? Dienstleistungsgesellschaft? Vergebliche Mühe in Berlin, wie sich gezeigt hat.

 

Das einzige, was diese Stadt nun mal kann, ist Kultur. Gysi will diese vermeintliche Schwäche zur Stärke umdefinieren. Keine andere Stadt in Deutschland habe ein so breit gefächertes Kulturangebot, das sei der Standortfaktor, den man fördern müsse. Kein sozialistischer Umbau der Industriegesellschaft, aber eine softe, lebenswertere Variante einer “kapitalistischen Metropole” (Gysi über Berlin).

 

Mal abgesehen davon, dass Gysi vom zukünftigen Finanzsenator etwas anderes zu hören bekommen wird, ist das zumindest mal ein origineller Ansatz. Fraglich, was Gysi genau meint, wenn er Kultur sagt. Wenn er die Medienbranche meint, wird er damit schnell an Grenzen stoßen. Denn da gibt es kaum noch was zu holen: Fernsehstädte sind und bleiben Köln und München, die Internetbranche war, als es sie noch gab, vorwiegend in Hamburg anzutreffen. Mit Millionensubventionen ist es gerade mal gelungen, Universal Music zum Umzug von der Alster an die Spree zu bewegen, MTV in München zögert und pokert noch. Agenturen leisten sich allenfalls eine kleine Dependance mit einer Handvoll Repräsentanten. Die Arbeit wird woanders erledigt. Und mit Kultur allein, so lange sie nicht Kulturindustrie heißt, ist nun mal kein Geld zu verdienen.

 

Vielleicht muss man das ja auch nicht. Denn andererseits stimmt es natürlich, dass das Leben in Berlin billig und unterhaltsam ist, und gerade Menschen aus München oder Hamburg bei den hiesigen Mieten neidvoll erblassen. Dass sich alle Boomprognosen als Wünsche entpuppten, kam dem Gros der etablierten Kulturklientel eher zupass, und ein allseits verbreiteter sachter Defätismus zeugt davon.

 

Der ökonomische Druck zur Vollzeitarbeit hat hier für Kulturschaffende nie bestanden und wird es auch bis auf weiteres nicht. Man kann immer noch billige Räume mieten für was auch immer da Kultur heißen mag und notfalls ein paar Bier verkaufen. Diese spezifische Form der Berliner Kulturökonomie hat nichts gemein mit denen anderer kapitalistischer Metropolen wie London, Paris oder gar New York und hat selbst im Vergleich mit westdeutschen Großstädten noch etwas von einem Gegenentwurf.

 

Utopisch weiter gedacht und aus der Schwäche eine Stärke gemacht, liefe das auf eine Art Uruguay-Variante hinaus. Eine Stadt verzichtet freiwillig auf den Anschluss ans Weltniveau und widmet sich der entspannten kulturellen Selbstveredelung. In kleinen Manufakturbetrieben wird an den kulturellen Codes gebastelt und das kulturelle Erbe sorgfältig recyclet. Der Haken an der Sache wird sein – abgesehen davon, dass Gysi das so alles sicher auch nicht gemeint hat, und das es die Gestaltungsspielräume in Wahrheit gar nicht gibt -, dass es ein absoluter Minderheitenentwurf ist und dass er in Berlin niemals auch nur ansatzweise konsensfähig wäre.

 

Materialistisch ausgedrückt: Erst kommt der Zweitwagen und dann die Kultur. Der Versuch, dieses Verhältnis von den Füßen auf den Kopf zu stellen, muss beim Normalberliner, dem ohnehin alles an Kultur suspekt ist, was nicht Kiez- oder Currywurstkultur heißt, auf Misstrauen stoßen. Fast möchte man dem neuen Wirtschaftssenator zurufen: Wir sind hier nicht in Uruguay, Gregor, und werden es auch niemals sein. Aber das wird er ja allzu bald selbst herausfinden.

 

In Jungle World.

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