Das Stabi-Office

Von Holm Friebe, erschienen am 25.08.2003 in der Berliner Zeitung.


Vor kurzem haben amerikanische Großstädter entdeckt, dass es neben Cubicle-Arbeitsplatz und Schuhschachtel-Appartement noch etwas Drittes geben muss, das zum urbanen Lebensgefühl beiträgt. Als “third place” bezeichnen sie deshalb einen Ort des Sozialen im öffentlichen Raum, der als verlängertes Wohnzimmer fungiert und zwanglose Geselligkeit ermöglicht. Obwohl “third places” in kontinentaleuropäischen Metropolen erfunden wurden und danach nicht mehr verschwanden – angefangen von den Wiener Kaffeehäusern bis hin zu Berliner Szenekneipen, die ja mitunter sogar “Wohnzimmer” heißen – wird das Konzept gerade als “Starbucks” irritierend erfolgreich reimportiert. Dabei liegen die Engpässe zumindest in Berlin auf einem anderen Sektor. Die Frage, welche uns freiberufliche Medienschaffende umtreibt, die wir mangels sozialer Kontrolle am heimischen Schreibtisch mählich zu verlottern drohen, ist: Gibt es nicht einen dritten Ort zwischen Zuhause und Kneipe? Einen “third place”, der als Verlängerung des heimischen Schreibtisches fungiert und die Gruppensituation des Großraumbüros aus seligen Festanstellungszeiten emuliert? Der uns jenseits des heimischen Spüls und des abendlichen Pils ein konzentriertes Arbeiten unter Unseresgleichen ermöglicht? Doch, gibt es, und das gleich doppelt. Aber das muss jetzt bitte schön unter uns bleiben: Die Staatsbibliothek – liebevoll: “Stabi” – ist das ideale Großraumbüro für Freiberufler und mit 15 Euro Jahresbeitrag inklusive Standleitung billiger als jede Bürogemeinschaft. Für welche der beiden Niederlassungen man sich entscheidet, ist Geschmackssache. Die Zweigstelle Potsdamer Platz hat eindeutig den hipperen Ruf. Angeblich würden sich die dort mehrheitlich anzutreffenden Jura- und Medizinstudentinnen morgens regelrecht aufbrezeln für die Arbeit. Die Cafeteria im Zwischengeschoss gilt als Kontakthof. Andererseits ist sie deshalb auch überlaufener. Und schließlich sind wir nicht auf flüchtige Bekanntschaften und Zerstreuung aus, sondern auf Konzentration und innere Sammlung. Deshalb gehen wir lieber in die Ost-Stabi Unter den Linden, auch wenn es dort statt sexy Cafeteria nur einen kargen Raum mit Kaffee- und Süßwarenautomaten gibt. Durch den efeubewachsenen Innenhof mit Springbrunnen betritt man das verwunschene Gebäude, welches bei Licht besehen nur notdürftig von Stahlträgern aufrechterhalten wird. Das braune Eingangsschild mit “Staatsbibliothek” in Frakturschrift sieht von fern aus wie “Schwarzwaldklinik”. Obwohl schon seit Jahren daran herumrenoviert wird, bildet das Innere einen Palimpsest diverser Stilepochen: jene inspirierende Mischung aus erdrückender humanistischer Bildung hinter ledernen Buchrücken und ausufernder Bürokratie hinter Resopaltresen – Humboldt und Borges treffen Kafka. Es braucht ein paar Tage, bis man sich in den verschlungenen Gängen zurechtfindet, die Abmessungen des Gebäudes begriffen hat. Wichtigstes Utensil – und einzige Investition in die Geschäftsausstattung – ist ein Kettenschloss, mit dem man den Laptop am Tisch befestigt. Das eröffnet Spielräume für entspannte Exkursionen durch entlegene Teile des Hauses, Pausen im Innenhof mit einem erfrischenden Fußbad oder Abstecher in die nahe gelegene Mensa. Hat man schließlich seinen Stammplatz gefunden, beispielsweise im altehrwürdigen allgemeinen Lesesaal II, wo Internetrechner erlauben, sich der Gegenwart draußen rückzuversichern und Flaschenpost in dieselbe abzusetzen, so gilt es, diesen täglich aufs Neue zu verteidigen. Da sich das Publikum nebst einiger Forschungsfossilien in der Hauptsache aus Studenten und Studentinnen der benachbarten Humboldt-Uni rekrutiert, muss man hierzu insbesondere in Prüfungsphasen zeitig erscheinen – eine durchaus begrüßenswerte disziplinatorische Begleiterscheinung des Stabi-Office. Ab dem fünften Tag etwa setzt der Gewöhnungseffekt ein. Man wird ruhiger. Man hört auf, Typen zu scannen und zwanghaft Einblicke in Bücher und Bildschirm des Nachbarn erheischen zu wollen. Der Presslufthammerlärm vor dem Fenster verschwimmt zu einer gleichförmigen Soundtapete, die einen nicht mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen vermag. Man kann endlich anfangen zu arbeiten.

In der Berliner Zeitung.

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