Der Alligator ruht sich nicht nur aus

Von Holm Friebe, erschienen am 18.01.2000 in der Berliner Zeitung.

 

Mit vierjährigen Söhnen von Freundinnen macht man am Wochenende Sachen, die man sonst nicht so ohne weiteres täte. Aquarium zum Beispiel. Das Berliner Aquarium hat offenbar Zulieferverträge mit sämtlichen Kindergärten und Grundschulen der Stadt, die garantieren, dass es tagtäglich bis zum Bersten mit Nachwuchs gefüllt ist: Kleine Kapuzenanorakträger, die durch das schummrige Licht und die verquere Optik des in den zentimeterdicken Aquarium-Scheiben gebrochenen Lichts in einen delirösen Zustand der Quasi-Bewusstlosigkeit versetzt werden, bei gleichzeitiger motorischer Überaktivität. Kinder eine Laune der Natur, ebenso wie Zitteraale, die elektrische Stromstöße aussenden. Es gibt Insekten, die aussehen wie Blätter, weshalb die Kinder sich quengelig bei ihren Eltern beschweren, in dem Schaukasten sei “ja gar nichts drin, langweilig!” Sowieso scheint die gesamte Ausrichtung des Aquariums auf die infantile Zielgruppe auf dem Missverständnis zu beruhen, Kinder könnten sich für irgendetwas interessieren, das lautlos hinter Glas vegetiert, das man nicht anfassen, also nicht kaputt machen kann und keine elektronischen Quäklaute von sich gibt. Des ungeachtet gibt es eine sehr hübsche pink und grau gemusterte Schlange zu sehen, die wirkt, als habe sie sich diesen Look extra für das bevorstehende Achtziger-Jahre-Revival zugelegt, als sei sie bis vor kurzem braun und orange gemustert gewesen. Es gibt Quallen, die sämtliche kulturellen Vorurteile bestätigen: In westlichen Gewässern (Atlantik) sind sie schlicht und schmucklos, in asiatischen Gewässern (Pazifik) üppig filigran und mit fein ziselierten Ornamenten versehen. Die Hauptattraktion aber bleiben die Krokodile, deren Gehege das mehrstöckige Zentrum des gesamten Gebäudes bildet. Auf einer Brücke im ersten Stock überqueren Besucher einen Wasserlauf, der sich im Erdgeschoss befindet. An dessen betoniertem Gestade lümmeln die Krokodile. Aus klimatischen Gründen ist der Raum hermetisch abgeschottet. Wenn man die Glastür zur Brücke öffnet, schlägt einem ein warmer Gestank entgegen. Die Kinder auf der Brücke saunieren dort stundenlang in ihren Anoraks und drücken sich die Nasen an der Glasbrüstung platt. Sie scheint der Gestank nicht zu stören. Aber woher kommt dieser eigentlich? Die Antwort ergibt sich bei genauerer Inspektion der regungslos herumdösenden Hauptattraktionen. Zwar erweckt keines der Reptilien den Anschein besonderer Vitalität. Alle sehen sie leicht degeneriert aus, so als hätten sie in freier Wildbahn eine Lebenserwartung von einer knappen Dreiviertelstunde. Aber eines von ihnen ist definitiv tot. Dicke schrundige Macken auf dem Rücken, die Farbe abweichend von den Artgenossen ins Gräuliche spielend, die Augen mit Laub verklebt und die Beine in unnatürlicher Verrenkung, liegt der imposante Ex-Alligator etwas versteckt unter der Brücke und geht mählich seiner Verwesung nach. Ein Skandal! Immerhin scheinen die Kinder nichts zu bemerken, wohl, weil sie in Gedanken schon bei McDonald’s sind. Aber wieso unternehmen eigentlich die Wärter nichts? Ist ihnen auch noch nichts aufgefallen? Gehen sie davon aus, dass sich das Problem rein biologisch auf dem Weg des Kannibalismus lösen wird? Oder klammern sie sich wie der Verkäufer im Papageien-Sketch von Monty Python allem Augenschein zum Trotz an die Illusion, der Alligator würde sich “nur ausruhen”? Dabei besteht überhaupt kein Zweifel: Dieses Krokodil ist nicht mehr. Dieses Krokodil ist ein gewestes.

 

In der Berliner Zeitung.

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