Der Underground-Künstler

Im Londoner Alltag sind sie so präsent wie die U-Bahn: die Fotografien von Wolfgang Tillmans. Jetzt hat er den Turner-Preis bekommen. Von Holm Friebe, erschienen am 13.12.2000 in Jungle World.

Die Londoner U-Bahn ist die älteste U-Bahn der Welt. Das ist ihr Problem. Sie ist chronisch überlastet und ständig kaputt. Demnächst soll sie privatisiert werden, was wenig daran ändert, dass die Tunnel zu eng und zu marode sind und eigentlich eine ganz neue U-Bahn gebaut werden müsste. Die Fährnisse und Unbilden der Londoner “Tube” sind nach dem Wetter liebstes Gesprächsthema der Londoner. Die unfreiwillige unterirdische Intimität gehört zu den Basiserfahrungen in der Stadt. Wo die reale Mobilität versagt, gibt es den Anschein von sozialer Mobilität: Banker und Penner sitzen und schwitzen im gleichen Waggon.

Im August hat Wolfgang Tillmans eine ganze Ausgabe des Londoner Straßenmagazins The Big Issue bebildert und die U-Bahn zum Leitmotiv des Heftes gemacht. Die acht Fotografien zeigen fragmentarische Körper anonymer Passagiere, unscharf und flüchtig, wie aus der Hüfte geschossen. “Victoria Line” zeigt eine Schlafende im Anschnitt. “Circle Line” und “Bakerloo Line” eröffnen den direkten Blick in Achselhöhlen. Man merkt: Tillmans, der seit einigen Jahren in London lebt, hat die Stadt verstanden. Und die Stadt offensichtlich ihn. Jedenfalls glaubt sie das.

Wer diesen Winter in London war, konnte neben dem Verkehrskollaps beim Christmas-Shopping das interessante, alljährlich im Vorfeld des begehrten Turner-Preises stattfindende Schauspiel verfolgen, wie sich eine Stadt auf einen Künstler einstimmt. Dass Tillmans den Preis dann tatsächlich abräumte, konnte gar nicht mehr verwundern. Tillmans war im Stadtbild annähernd so präsent wie die U-Bahn. Und hatte annähernd so viele unterschiedliche Gesichter.

In der Turner-Preis-Ausstelllung der vier Künstler, die auf der Shortlist standen, war er in der Tate-Gallery zu sehen. Neben Tomoko Takahashi, die mit ihren Rauminstallationen allen Messies dieser Welt das Gefühl gibt, sie seien nicht allein, neben Michael Raedecker, dessen Bilder an die kunsthandwerkliche Tradition der Makramee-Eule anknüpfen, und neben Glenn Brown, dessen Science-Fiction- und Dali-Adaptionen in Öl ebenfalls dem soliden Handwerk verpflichtet scheinen, stand Tillmans ziemlich unangefochten als der radikale Apostel des Authentischen, Ungeschönten und Echten da.

Glück war auch mit im Spiel: Seine Schnappschuss-Serie zur Concorde hat seit dem Absturz einer Maschine dieses Typs im Sommer einen bedrohlichen Thrill angenommen. Und das Bild von Lutz am Strand, der sich nackt im Sand in Krämpfen windet – man weiß nicht, ob lachend oder weinend – droht zu einer ähnlich leeren und universalen Ikone zu werden wie Tracey Emins Bett im letzten Jahr. Außerdem musste wohl endlich einmal ein Fotograf den Turner-Preis gewinnen, eine Auszeichnung, die “herausragende” junge britische Kunst würdigen und “neue Entwicklungen in der Bildenden Kunst” aufzeigen will.

Von der Tate-Gallery gelangt man zur Tubestation “Pimlico”, fährt bis “Green Park”, und von da aus sind es nur noch ein paar Schritte bis zur Royal Academy. Dort ist noch bis zum 15. Dezember die groß angelegte Show “Apocalypse” zu sehen, die allzu offensichtlich den “Sensation”-Coup des vorvergangenen Jahres beerben soll. Um nicht weniger als um “Beauty and Horror in Contemporary Art” geht es. Zwischen dem raumfüllenden imposanten Schreckensszenario aus Dreißigjährigem Krieg und Konzentrationslager, das die Chapman-Brüder in unendlicher Kleinarbeit aus zigtausend Zinnsoldatenmutanten angefertigt haben (“Horror”), und dem vier Meter großen pinkfarbenen Luftballonhund von Jeff Koons (“Beauty”): Wolfgang Tillmans Fotografien. Man weiß nicht genau, ob das Horror oder Beauty ist. Der Blow-up-Close-up-Blick zwischen gespreizte Frauenschenkel in superkurzer pinker Jeans hat von beidem etwas. Hier geht es um den abstrakten Tillmans, der aus missglückten Experimenten in der Dunkelkammer (engl: Darkroom!) noch Kunst zu fabrizieren weiß und dessen Aufnahmen der Sonnenfinsternis ungleich intensiver sind als die der Milliarden Amateurfotografen. Im Katalog heißt es, seine Fotografien enthüllten Momente von Schönheit und Begehren, “Beauty and Desire”. Also wohl doch eher dem “Beauty”-Lager zuzuschlagen: kryptisch, verrätselt und einfach schön.

Mit der überfüllten U-Bahn von “Green Park” nach “Aldgate East” und von dort in die Whitechapel Gallery. Dort, im Herzen des aufstrebend heruntergekommenen East-End, wird mit der Ausstellung “Protest and Survive” das Anti-Establishment-Kontrastprogramm geboten. “Dissidente Überlebensstrategien im Turbokapitalismus”, könnte das Motto der Ausstellung lauten. Ausgestellt wird, was die Londoner Protestgeschichte hergibt. Im zweiten Stock gibt es einen komplett ausstaffierten Rockband-Proberaum mit angeschlossenen Geräten. Wer wollte, könnte drauflos spielen und sich den Frust aus dem Leib rocken. Vom Zwischengeschoss führt ein Tunnel in den angrenzenden Anarchistenbuchladen; man meint es ernst mit der staatlich bezuschussten Verweigerung. Mittendrin: Wolfgang Tillmans. Eine wie immer improvisiert wirkende Rauminstallation mit vermeintlichen Schnappschüssen, diesmal eine Sandburg. Auch das berühmte Foto des anonymen Flugreisenden, der zwischen Tomatensaft und Economy-Class-Fraß seinen erigierten Penis zum Vorschein bringt, ist hier zu sehen.

Die Big Issue-Ausgabe, in der neben den U-Bahn-Fotos auch diverse Stadtansichten und Porträts von Menschen, die sich für eine gute Sache stark gemacht haben, zu finden sind, wird hier vom Stapel verkauft. Wolfgang Tillmans als verkappter Agitprop-Fotograf. Etwas ratlos verlässt man die Galerie und steigt in die überfüllte U-Bahn. Wer ist nun eigentlich dieser Wolfgang Tillmans?

Er wurde 1968 in Remscheid geboren, fotografierte in den frühen Achtzigern die aufkommende Clubszene in Frankfurt und anderswo, repräsentierte Subkultur und schwules Lebensgefühl, war einer der Gründer der Spex, fotografierte für The Face und i-D, wurde zum Shooting Star. Eine Mischung aus Nan Goldin und Rainald Goetz: streetcredibility, aber universell anschlussfähig. Wolfgang Tillmans’ Fotos sind “authentisch” im Sinne einer gewissen Schnappschusshaftigkeit und eines Szene-Insidertums. Für die “draußen” funktionieren die Aufnahmen als Kolportage eines bestimmten unbestimmten Lebensgefühls, für die “drinnen” als Wiedererkennung.

Lange vor der Lomografie hat Tillmans den Schnappschuss zur Kunst erhoben. Als die Lomografie dann aufkam, war Tillmans schon längst museal kanonisiert. Seine Art, Fotos in Galerieräumen zu arrangieren, verstärkt den Eindruck von erratischer Unbekümmertheit, die einem verborgenen Plan und einem ästetischen Konzept folgt, oder auch nicht. Alles hängt irgendwie herum. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Auf Tillmans trifft zu, was Billy Wilder über den Schauspieler Jack Lemmon sagte: “Er lässt das Schwierige leicht aussehen, bis man vergisst, dass es einmal schwierig war.”

Schwer zu beurteilen, was wirklich schwierig ist an der Fotografie von Wolfgang Tillmans. Ist es eine eigene Bildsprache? Vielleicht. Ist es eine erfolgreiche Masche? Auch das. “Du hast dich selbst als Rebell definiert und in Ermangelung eines repressiven Milieus wird jetzt deine ökologische Nische überbevölkert«, sagt Lisa Simpson. Vielleicht ist das Wolfgang Tillmans Problem. Vielleicht ist es das Problem von uns allen, und Tillmans hat gar kein Problem. Fest steht: In London ist Wolfgang Tillmans einfach nicht mehr zu fassen. Wo man auch hinkommt, man verpasst ihn gerade eben – wie die letzte U-Bahn, die um halb eins fährt und natürlich total überfüllt ist.

In Jungle World.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.