Die digitale Entspannung

Sind wir wirklich Sklaven unserer Smartphones? Plädoyer für eine Versöhnung mit den Apparaten. Erschienen am 8. Dezember 2013 in der Welt.

In einer brasilianischen Bar haben sie das Problem antisozialen Medienverhaltens im halb öffentlichen Raum durch originelles Design gelöst: Sogenannte Offline-Biergläser kommen mit einer Aussparung am Fuß, sodass sie nur aufrecht stehen, wenn man sein Smartphone zur Unterstützung darunter legt. In den USA traktiert man den gleichen Missstand mit einer neuen sozialen Konvention: “Phone stacking” heißt ein Gesellschaftsspiel, bei dem alle Teilnehmer einer Trink- oder Essensrunde ihre Smartphones auf einen Stapel packen und derjenige, der zuerst einen Anruf entgegennimmt oder eine Textnachricht beantwortet, die gesamte Zeche zahlt. Ein Kurzfilm mit dem Titel “I Forgot My Phone” zeigt uns in zwei Minuten den Tagesablauf einer jungen Frau, die zur handylosen Unperson wird unter lauter Aliens, die von früh bis spät an ihren Smartphones herumnesteln. Der Film scheint einen Nerv zu treffen; er wurde auf YouTube mittlerweile über 33 Millionen Mal angeklickt.

All das wüsste ich nicht, wenn ich es nicht über Facebook erfahren hätte. Als digitale Dorfzeitung des Global Village versorgt uns Facebook über den persönlichen Freundesfilter mit maßgeschneiderten News and Gerüchten. Gleichzeitig stiehlt es unsere Zeit; nicht umsonst wird es gern als “Time Toilet” apostrophiert. Es ist jene Mischung leicht konsumierbarer Inhalte – hehre Anliegen, anekdotische Evidenz und frappante Welterkenntnis, platter Brachialhumor und Katzencontent –, die die verführerische “Stickyness” von Facebook ausmacht: Man kommt von Hölzchen auf Stöckchen. Jonah Paretti setzt mit seiner Contentplattform “Buzzfeed” genau auf diesen Effekt: hochinfektiöse, speziell für die Verbreitung in sozialen Netzwerken optimierte Listen von Fundstücken aus dem Netz. Als Zielgruppe nennt Paretti ohne falsche Scheu das “bored-at-work-network”. Die Aufmerksamkeit durch ihre Arbeit gelangweilter Angestellter ist eine leichte Beute, wenn man es – wie die grauen Herren aus “Momo” – darauf abgesehen hat, ihre Zeit zu stehlen. Entsprechend wird der volkswirtschaftliche Schaden durch Facebook und Vergleichbares im zwei- und dreistelligen Milliardenbereich taxiert.

Ob es allerdings etwas brächte, den Angestellten den Zugang zum Internet abzuklemmen, ist mehr als fraglich. Dann spielen sie halt Minesweeper. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Robert Solow hat schon 1987, also lange vor dem Internet, festgestellt, dass sich das “Computerzeitalter überall bemerkbar macht, nur nicht in der Produktivitätsstatistik”. Kürzlich hat eine Arbeitseffizienzstudie der AKAD Hochschule Leipzig und der Tempus GmbH ergeben, dass in Deutschland zwei von fünf Arbeitstage für sinnlose E-Mail-Kommunikation und folgenlose Meetings draufgehen. Die Zeitersparnis, die neue Technologien mit sich bringen, wird durch sie selbst vollständig absorbiert.

Solch Paradoxien betreffen nicht nur das Büro, sondern auch die häusliche Produktionssphäre, wie die Soziologin Joann Vanek bereits in den Siebzigerjahren für die USA ausgerechnet hat. Demnach ist die Zeit, die für Hausarbeit verloren geht, trotz der Verbreitung von Staubsaugern und Waschmaschinen zwischen 1920 und 1970 ungefähr konstant geblieben. Wurden die Teppiche früher zweimal im Jahr auf der Stange im Hof ausgeklopft, werden sie heute zweimal die Woche gesaugt. Wurden früher zehn Briefe pro Arbeitstag verschickt, sind es heute hundert E-Mails. Da beißt sich die Katze in den Schwanz, und die digitale Revolution frisst ihre Kinder.

“Wachstumsraten sind höher als Beschleunigungsraten, und aus diesem Grund wird Zeit trotz technischer Beschleunigung immer knapper”, assistiert Hartmut Rosa, der Jenaer Soziologe, der nicht müde wird, den rasenden Stillstand als Symptom des Spätkapitalismus zu beforschen, in seinem jüngsten Essay “Beschleunigung und Entfremdung”: Indem wir versuchen, mit technischer Unterstützung immer mehr Leben in die gleichbleibende Lebenszeit zu quetschen, rennt uns die Zeit davon. Deshalb haben heute so viele Zeitgenossen das Gefühl, nicht zur Ruhe zu kommen und bis zum Anschlag überlastet zu sein.

Objektiv hätten Mitteleuropäer vor hundert Jahren mehr Grund gehabt, unter der alltäglichen Plackerei wie unter dem Fortschrittstempo zu stöhnen. Damals veränderten Innovationen wie Elektrizität, moderne Sanitäranlagen, das Auto, das Telefon, das Radio das Leben auf breiter Front. Und heute? Das Internet, das mobile Internet – und dann lange Zeit nichts. Dafür reicht der Imperativ des permanenten Wandels viel stärker ins Privatleben hinein: Die Konkurrenz schläft nicht, den Letzten beißen die Hunde, und wer zu spät kommt … Es ist wie mit der gefühlten Temperatur, die kälter ist, wenn ein eisiger Wind bläst: Auch wenn Reallöhne und Wirtschaftswachstum längst stagnieren, empfinden wir subjektiv einen beschleunigten Wandel, mit dem wir Schritt halten müssen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Dass in einem derart nervösen Klima Besinnungsappelle, die uns zum achtsameren Umgang mit unserer Zeit mahnen und zu einem diätetischen Medienverhalten animieren, erneut Konjunktur haben und gerade in den sozialen Medien eine hohe Viralität erzielen, ist nicht Dialektik, sondern Ausdruck einer widersprüchlichen Wehmut. Schon Nietzsche – und er war nicht der Erste – bejammerte im Abschnitt “Muße und Müßiggang” der “Fröhlichen Wissenschaft”: “Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortdauernd etwas ‘versäumen könnte’.” Ersetzte Uhr durch Smartphone, und du hast die heutige Debatte.

Es ist eine alte Geschichte, und doch ist sie immer neu. Erst formen wir die Gerätschaften, dann formen sie uns. Freud hat das werkzeuggebrauchende Tier Mensch einen “Prothesengott” genannt. Wer kennt nicht die Phantomvibrationen am Körper, wenn man das Handy zu Hause vergessen hat? Insofern sind wir alle längst Cyborgs, die sich mit Kommunikationskrücken durch einen immer komplexeren Alltag manövrieren.

Das Neue funkelt deshalb so verführerisch, weil es unsere Handlungsspielräume erweitert und soziale Kontaktflächen eröffnet. Wir kassieren die Zugewinne an Lebensqualität stillschweigend ein und bejammern die negativen Begleiterscheinungen. Trotz allen Unbehagens in den Tretmühlen des Fortschritts sollten aber gerade wir Älteren uns davor hüten, uns das wärmende Wams des Kulturpessimismus überzustreifen. Das Abendland ist schon oft untergegangen, doch niemand ist ernsthaft zu Schaden gekommen. Im Gegenteil: Trotz Schundcomics, Videospielen, Yu-Ghi-Oh! und WhatsApp werden Jugendliche von Generation zu Generation schlauer. Sie haben einen messbar höheren IQ und können mehr Komplexität verarbeiten – auch wenn es bei der Aufmerksamkeitsspanne etwas hapert. Vermutlich sind das die kognitiven Anpassungen eines elastischen Gehirns, die es braucht, um im 21. Jahrhundert zurechtzukommen.

Zu Recht nervt es das Real-Life-Umfeld, wenn jemand mitten in der Konversation mit seiner Aufmerksamkeit woanders ist. Es nervt aber auch einen selbst, wie in einem Fiebertraum von Niklas Luhmann am Gängelband der Kommunikation zu hängen. Wie exzessiver Alkohol-, Nikotin- oder Schokoladenkonsum ist es eine schlechte Angewohnheit, die durch Verfügbarkeit getriggert wird. Ich spreche aus Erfahrung: Ich musste mir erst mein iPhone klauen lassen, um festzustellen, dass mein Leben ohne Push-Benachrichtigungen für Facebook und WhatsApp auf einen Schlag entspannter und strukturierter war. Lange habe ich es dennoch nicht ausgehalten.
Seit jeder Mensch ein Mobiltelefon hat, also seit der Jahrtausendwende, gibt es den Topos vom “Luxus der Unerreichbarkeit” und das Sehnsuchtsfeld “Urlaub im Funkloch”. Etliche Selbstversuche in Kommunikationsverzicht berichten uns vom Glück der Einfachheit dank Datenaskese. Vermutlich sind solche Übungen in Selbstdisziplinierung hilfreich, analog zum Heilfasten. Warum auch nicht, wenn es dem Wohlbefinden dient? In der holprigen Anpassungsphase an die Omniverfügbarkeit der neuen Medien ist jedes Mittel recht.

Im Gefolge von “Getting Things Done” und “Simplify” nährt sich eine ganze Branche von Zeitmanagementseiten wie 43folders.com oder inboxzero.com vom Fantasma, durch Abschottung wieder Herr über einen strukturierten Alltag und eine leere Inbox zu werden. “Productivity porn” wird dieses Genre auch genannt. Gebannt starren wir auf die guten Ratschläge, im Wissen, dass wir zu schwach sind, sie im Alltag unserer “messy lifes” zu befolgen. “Es gibt nur ein Leben zwischen Pfusch, Scheitern, Wirrnis, Ablenkungen und Gewohnheiten, in dem in seltenen Momenten etwas gelingen kann”, schreibt lakonisch die Kollegin Kathrin Passig, eine Instanz in Sachen Prokrastinationsforschung.

Wenn nicht Selbstdisziplin uns raushaut, dann vielleicht Überdruss und Ennui? Auf Rausch und Exzess folgen in der Regel Kater und phasenweise Abstinenz. Unter jungen Amerikanern greift bereits “Facebook fatigue” um sich, das fand das PEW Research Center kürzlich in seinem Projekt “Internet and American Life” heraus. Gerade die meinungsbildenden “early adopters” zwischen 18 und 29 nehmen immer häufiger mehrwöchige Auszeiten, fast die Hälfte gibt an, Facebook künftig weniger benutzen zu wollen. CEOs und Topmanager in den USA – darunter auch die von Apple und Facebook – wenden sich von der TED-Konferenz ab, dem Mekka technologisch beschleunigter Fortschrittsutopien, und pilgern zur “Wisdom 2.0″, um sich von Zen-Meistern Meditationstechniken beibringen zu lassen. Die “Sorge um sich”, wie sie Michel Foucault proklamierte, steht hoch im Kurs, und “mindfulness”, zu Deutsch etwa: Achtsamkeit, heißt die Mode der Stunde. Die sozialen Selbstheilungskräfte sind also längst am Werk.

Bei Licht besehen betrifft das Problem der Invasion von Kommunikation in den Alltag eine überschaubare Gruppe unselig Zerrissener: Männer im mittleren Alter und mittleren Management, die mit einem Bein als Befehlsempfänger in der alten hierarchischen Arbeitswelt der Industriegesellschaft stehen, mit dem anderen als neue Familienväter in der “Rushhour” des Lebens. Ihr Konflikt ist der Rollenkonflikt, als Diener zweier Herrn auch dann der Firma zu gehören, wenn sie eigentlich ganz der Familie gehören sollten. Ihr Problem ist also nicht Kommunikation, sondern Ohnmacht.

Selbst berufstätige alleinerziehende Mütter erkennen in den neuen Möglichkeiten digitaler Kollaboration eher ein Freiheitsmoment, das dabei hilft, das starre Regime männlicher Präsenzkultur auszuhebeln. Statt die aussichtslose Schlacht um die “Work-life-balance” zu fechten, sehen sie das Versprechen, beide Sphären geschmeidig zu amalgamieren. Deshalb wird der paternalistische Ansatz, Inseln der “Quality time” gegen die Zeitfresserei zu verteidigen, nicht fruchten: nach Feierabend abgeklemmte Manager-Smartphones wie bei Volkswagen fallen ebenso wie die rührenden Laptop-Verbotsschilder in Cafés unter “naiven Interventionismus”, wie es Nassim Taleb nennt: untaugliche Versuche, die Geister, die wir riefen, zurück in die Flasche zu bekommen, oder besser: die Zahnpasta zurück in die Tube.

Kommunikation ist kein radioaktiver Fallout, vor dem man die Menschheit schützen muss, damit eine bestimmte Becquereldosis nicht überschritten wird. Viel mehr hat sie Ähnlichkeit mit Bakterien, die uns täglich umgeben und im Normalfall keinen Schaden anrichten. Schließlich haben wir gelernt, uns nach dem Klobesuch die Hände zu waschen, die Arbeitsflächen in der Küche keimfrei zu halten und ab und zu den Müll runterzubringen. Genauso werden wir absehbar einen vernünftigen Umgang mit Kommunikation, Daten und Information erlangen. “It’s not information overload, it’s filter failure”, wie der Medientheoretiker Clay Shirky ganz richtig bemerkte. Wenn wir in zehn, zwanzig Jahren gelernt haben, unsere Datenhygienefilter richtig einzustellen, werden wir ähnlich schmunzelnd auf den heutigen Beschleunigungsdiskurs zurückblicken wie auf die kolportierten bayerischen Medizinalräte, die in den Anfangstagen der Eisenbahn vor der “unfehlbaren Gehirnkrankheit” warnten, die durch das Tempo verursacht werden sollte.

Ein Vorbild und Vorbote dieser neuen Gelassenheit könnte jener ebenfalls viel zitierte anonyme Teenager aus den USA sein, der, im Rahmen einer Marktforschungsstudie befragt nach seinem nachlässigen Medienverhalten, zu Protokoll gab: “Wenn eine Nachricht derart interessant für mich ist, wird sie mich finden.” Er hat seine sozialen Filter anscheinend schon passabel kalibriert.

Und was die Produktivität angeht: “Relax! You’ll Be More Productive”, war im Februar 2013 ein Meinungsbeitrag in der “New York Times” überschrieben. Darin referiert Tony Schwartz, selbst Gründer einer Zeitberatungsagentur, den aktuellen Forschungsstand: “Paradoxerweise könnte der beste Weg, mehr erledigt zu bekommen, sein, weniger zu tun. Ein frischer und wachsender Korpus interdisziplinärer Studien belegt, dass strategische Rekreation – inklusive Work-out während der Arbeitszeit, eines kurzen Nickerchens am Nachmittag, länger schlafen, mehr Zeit außerhalb des Office sowie längeren und häufigeren Urlaubs – die Produktivität befeuert, die Arbeitsperformance befördert und, natürlich, der Gesundheit zuträglich ist.”
Wenn die Arbeitgeber von selbst nicht kapieren, dass viel nicht viel hilft und weniger manchmal mehr ist, wird man sie politisch dazu zwingen müssen. Vielleicht könnte das tatsächlich das Projekt der großen Koalition werden, wenn schon sonst keines erkennbar ist: der Zeitpolitik zu ihrem Recht zu verhelfen. Schon zeichnet sich eine klandestine Koalition der berufstätigen Mütter Ursula von der Leyen, Andrea Nahles und Manuela Schwesig ab, die das Thema voranbringen könnte. Beim anachronistischen Arbeitsregime anzusetzen ist auf jeden Fall aussichtsreicher, als die modernen Medien zu geißeln. Denn sie sind nur die Überbringer schlechter Gewohnheiten.

In der Welt.

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