Entomophagen

Erschienen am 16. August 2013 in SPEGMA auf ARTE Creative.

Wenn es in den letzten Jahren ein dankbares Feld für Trendforscher zu bestellen gab, dann ist es die Ernährung. Eine Serie von Lebensmittelskandalen, aufrüttelnde Bücher und Filme haben die Lebensmittelindustrie an den Pranger gebracht – und viele Menschen auf den Gedanken, dass, wenn man schon über Konsum die Welt retten will, man am ehesten bei den Essgewohnheiten ansetzen sollte. Die sich langsam herumsprechende Botschaft, dass der weltweite Fleischkonsum mindestens ebenso viel zur Klimaerwärmung beiträgt wie das gesamte Verkehrsaufkommen, hat dem lange als Nischenphänomen herumdümpelnden Vegetarismus um das Jahr 2006 schlagartig populär gemacht. Durch die aufgestoßene Tür folgten die Spielarten “Veganismus”, die komplette Absage an die Ausbeutung von Tieren, “Locavores”, nichts Essen, was aus mehr als 50 Kilometer Umkreis stammt, und “Paläo”, nur das essen, was unsere Steinzeit-Vorfahren auch schon gegessen haben. Die nächste Frontier, die es ernährungs-lifestyle-technisch zu pushen gilt, ist die abendländische Ekelschwelle: Werdet Entomophagen! Esst mehr Insekten!

Das propagiert seit Neuestem auch die Welternährungsbehörde FAO in einer umfangreichen Studie zum Thema “Essbare Insekten”. Insekten, so der Tenor, seien ein entscheidender Schlüssel, bald 9 Milliarden Menschen gesund zu ernähren und dabei den Planeten zu schonen. Insekten sind viel bessere Pflanzenfutter-Verwerter als Säugetiere; die Kultivierung von Heuschrecken und Zikaden verursacht ungleich weniger Treibhausgase als Rinder- und Schweinehaltung. Mehlwürmer liefern pro Fläche deutlich mehr Proteine als Milchkühe. Außerdem seien von der Grille 80 Prozent essbar, von der Kuh nur 40 Prozent. Fazit: „Der Insektenverzehr trägt zum Umweltschutz, zur Gesundheit und zum Broterwerb bei“.

Einem Großteil der Welt braucht man die Idee nicht eigens schmackhaft zu machen. Für viele Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika gehören Insekten zu den täglichen Nahrungsmitteln. In Thailand werden frittierte Maden, Heuschrecken und Kakerlaken als Straßensnack angeboten. Bei den Japanern stehen Wespen und Schmetterlingslarven auf dem Speiseplan. In Kambodscha dagegen bevorzugt man die geröstete Vogelspinne. Die traditionelle australischen Küche kennt Honigtopfameisen und Gallwespen als Zutaten. Außerdem gilt dort die Witchetty-Made – entweder roh oder in etwas Asche gegart als Delikatesse. Legendär auch der Fliegenburger aus Malawi.

In mexikanischen Restaurants findet man neben Algarvenraupen und Baumkäfern die sogenannten “Jumiles” auf der Speisekarte, in Deutschland auch bekannt als der “Stinkkäfer”. Selbst in Europa waren Insekten früher Teil der Nahrung. Schon die Römer und Griechen aßen Heuschrecken und andere Krabbeltiere. Maikäfersuppe war in Deutschland noch im 19. Jahrhundert ein beliebtes Rezept. Auf Sardinien isst man bis heute Käse, der Maden enthält.

Die westliche Abneigung gegen Insektennahrung ist also keineswegs im Gehirn hart verdrahtet, sondern eine reine kulturelle Konvention. Und Mutproben in TV-Ekel-Shows haben bislang wenig dazu beigetragen, diese Ressentiments abzubauen – eher im Gegenteil. Schützenhilfe bei der Popularisierung könnte ausgerechnet von der High-End-Gastronomie kommen. Um Kritiker und das anspruchsvolle Gourmet-Jet-Set bei Laune zu halten, sind Spitzengastronomen immer auf der Suche nach einem ausgefallenen Kick. Und der letzte Paradigmenwechsel an der Spitze liegt nun auch schon ein paar Jahre zurück. Damals, 2010, löste René Redzepi mit seinem Kopenhagener “Noma” den Spanier Ferran Adria vom “elBulli” als besten Koch der Welt ab und leitete einen Schwenk von der Molekularküche zur New Nordic Cuisine ein. Mittlerweile wirkt aber auch die karg-phantasievolle Muschel-, Algen- und Beerenküche der Nordländer etwas abgestanden. Ihre Hardcore-Fans ziehen sich in entlegene Blockhütten am Polarkreis zurück, wo sie über “fünf Minuten alten Käse in lauwarmer Molke” oder “Porridge mit Fleischbrühe im Herbstlaub gefiltert” aus dem Häuschen geraten.

Die nächste Basisinnovation der postmodernen Haute Cuisine könnten die Insekten sein – jedenfalls hält Tom Turpin, Insektenforscher und bekennender -esser, sie dafür für prädestiniert: “In einem High-End-Restaurant isst man Dinge, die man nicht im Supermarkt kaufen kann und die nicht auf dem alltäglichen Speiseplan stehen. Deshalb glaube ich, sie passen genau in dieses Food-Genre: eine nicht leicht erhältliche, dafür umso einzigartigere Spezialität.”

Tatsächlich krabbelt es bereits in der Sterneküche. Und René Redzepi vom “Noma” hat sich auch hier an die Spitze der Bewegung gesetzt, indem er lebende Waldameisen über einen Teller mit Crème fraîche laufen ließ. Schräg gegenüber des Noma auf einem Hausboot läßt Redzepi im “Nordic Food Lab” mit Ameisen, Wachsmotten und Bienenlarven experimentieren. Der eigentliche Pionier einer entomophagen Sterneküche jedoch heißt David Faure und betreibt in Nizza das Restaurant “Aphrodite”. Seine Gerichte heißen “Grille in der Whiskyblase” oder “Kabeljaurücken mit gegrillten Mehlwürmern”. Am Ende geht es Faure aber weniger um den Geschmack (der bei den meisten Insekten ohnehin nicht besonders ausgeprägt ist), vielmehr: “um ein Knuspern, ein Knistern, ein leichtes Kribbeln, eine gewisse Aufregung, um die Überwindung von kulturellen Gewohnheiten.”

Aber selbst wenn die Überwindung der kulturellen Gewohnheiten als Trickle-Down von der Spitzengastronomie in den Mainstram gelingen sollte (was weder bei der Molekularküche noch bei der New Nordic Cuisine bislang der Fall war), gibt es noch eine Reihe anderer Widerstände und Hürden auf dem Weg zum sechsbeinigen Convenience-Food. Weil es bislang nur eine überschaubare Nachfrage gab, existiert kein Weltmarkt und keine Anbieter – eine typische Spinne-Ei-Problematik. Tom Turpin steht der Lösung des Welthungerproblems durch Insekten deshalb skeptisch gegenüber: “Wir haben tausende von Jahren damit verbracht, Getreide anzubauen und Vieh zu züchten, um das Volumen zu erreichen, das es für eine verlässliche Nahrungsressource braucht.” Bei der Insektenzucht im großen Stil fehle hingegen jede Erfahrung.

Die weltweite Nahrungsmittelindustrie hat das Thema noch nicht auf dem Radar. Die meisten Insekten, die weltweit auf den Teller komemn, werden wild gesammelt; industrielle Massenzucht existiert fast gar nicht, nur vereinzelt werden in Laos und Thailand Kakerlaken, Maden oder Skorpione kultiviert. David Faure bezieht die überschaubaren Mengen, die er für seine Sternemenüs benötigt, beim kleinen Spezialanbieter Micronutis. Das 2011 in einem Toulouser Vorort gegründete Unternehmen sieht sich als Pionier auf dem europäischen Markt und beschäftigt derzeit fünf Angestellte. Ein größeres Rad will das an der Universität von Georgia gegründete Start-up World Entomophagy drehen: Momentan wirbt es Venture Capital ein, damit in Kalifornien industrielle Produktionsanlagen entstehen können, um den dermaleinst enormen Bedarf an Mehlwürmern und Heuschrecken decken zu können. Momentan ist das jedoch Zukunftszirpen. Zu den wenigen Kunden zählt neben ein paar Restaurants und Kochschulen in den USA aber immerhin schon der niederländische Online-Versand Delibugs.

Vielleicht ist die Brute-Force-Methode der industriellen Insektenzucht aber auch einfach der falsche Ansatz: 19.-Jahrhundert-Denken zur Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts. So wie Crafting, Fabbing und 3D-Drucker die Produktionslogik der Industriegesellschaft herausfordern, so wie Urban Gardening einen Beitrag zur Dezentralisierung und Demokratisierung des Ackerbaus leistet, könnte auch die Erzeugung von Nahrungsinsekten in die Fußstapfen einer kleinteiligen Subsistenzwirtschaft treten. Das ist jedenfalls die Vision des aus Togo stammenden Designers Mansour Orasanah, der mit seinem Lepsis ein formschönes und zweckdienliches Gerät für die Heim-Aufzucht von Grashüpfern vorstellt. Damit wären gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Man kann den possierlichen Zeitgenossen wie in einem Terrarium beim Aufwachsen zusehen – und hat immer Snacks im Haus, wenn mal überraschend Gäste kommen.

Mitarbeit: Philip Weyer und Xiaoyue Su

Auf ARTE Creative.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.