Fortschritts neue Kleider

Holm Friebe über die Disruption-Kontroverse und die Grenzen des Prognostizier- und Planbaren, zuerst veröffentlicht in EVONIK-Unternehmensmagazin 1/2015.

Ein Gespenst geht um in der Wirtschaft. Es hört auf den Namen Disruption, reist im Windschatten der Digitalisierung, und alle etablierten Unternehmen fürchten sich davor. Disruption – wörtlich: Bruch, Abriss, Zerrüttung – meint diskontinuierliche Sprünge in Technologien und Geschäftsmodellen, die Platzhirschen mit ihren angestammten Geschäftsfeldern kalt erwischen. Populär gemacht hat das Konzept Clayton Christensen, Schüler von Tom Peters und Professor an der Harvard Business School, mit seinem Buch “The Innovator’s Dilemma” von 1997. Theorie- und formellastig zeigt Christiansen darin, dass gerade Firmen, die mit Innovationen groß geworden sind, etwa in der Halbleiter- oder Computerindustrie, anfällig sind für disruptive Verwerfungen. Ihre zu Größe und Schwerfälligkeit geronnenen gestrigen Erfolge machten gleichzeitig ihre Achillesferse aus. Die griffige Punchline des Buches: Das Management solcher Firmen kann nach dem Lehrbuch alles richtig machen, innerhalb des gelernten Korridors innovativ sein, die Wünsche angestammter Kunden im Blick haben – und dennoch krachend scheitern, weil agile Angreifer ohne historischen Ballast es vom Markt fegen. Der frühe Vogel fängt den Wurm, aber die zweite Maus bekommt den Käse.

Das Buch kam zur richtigen Zeit. Es war Wasser auf die Mühlen der kalifornischen Dotcoms, die sich um die Jahrtausendwende als Avantgarde einer völlig neuen Ökonomie begriffen. Und obwohl die New-Economy-Blase alsbald platzte, konnte das den unaufhaltsamen Siegeszug der Disruption als Zeitschlüsselwort nicht mehr stoppen. Unzählige Beratungsagenturen und Managementkonferenzen führen es im Schilde. An amerikanischen Unis tauchen erste Disruption-Studiengänge auf. “Vorsicht Disruption! Retten Sie Ihr Geschäftsmodell!”, titelte die deutsche Ausgabe des Harvard Business Manager im Februar 2013. Noch eins drauf setzen die beiden Tech-Autoren Larry Downes und Paul Nunes mit ihrem Titel “Big Bang Disruption”. Nach disruptiver Innovation komme nun das Zeitalter “verheerender Innovationen”. Fortschritt wird so zur Naturgewalt, zum perfekten Tsunami. “Disrupt or be disrupted”, fressen oder gefressen werden. So klingt der alarmistische Soundtrack der Gegenwart. Und alle stimmen mit ein.

Alle? “Die meisten großen Ideen haben laute Kritiker. Nicht so Disruption”, schreibt Jill Lepore im Sommer 2014 in einem viel beachteten Artikel im New Yorker, um im Folgenden diese Kritik fulminant zu entfalten. Lepore selbst ist Historikerin in Harvard, was das Ganze zu einer pikanten Hausfehde macht. Disruption, so Lepores zentrales Argument, sei ein unscharfes und hermetisches Konzept. Vieles, was wie das zerstörerische Wirken disruptiver Innovation erscheint, entpuppt sich in der Rückschau schlicht als schlechtes Management. Umgekehrt hätten sich Großkonzerne von Stahl- bis Chipproduzenten durchaus als innovations- und überlebensfähig erwiesen. Im Übrigen passe das Konzept gut in die paranoide US-Gegenwart seit 9/11, ins Zeitalter asymmetrischer Konflikte und Kulturkriege: ruchlose Start-ups wie Uber und Airbnb attackieren behäbige Branchen, so wie Terroristen Nationalstaaten angreifen. “Das achtzehnte Jahrhundert umarmte den Fortschritt; das neunzehnte hatte Evolution; das zwanzigste hatte Wachstum und Innovation. Unsere Zeit hat Disruption, die trotz allem Futurismus zutiefst atavistisch ist. Es handelt sich um eine Geschichtstheorie, die auf einer tiefgehenden Angst vor dem finanziellen Kollaps, einer apokalyptischen Furcht vor weltweiter Verwüstung und auf klapprigen Beweisen fußt.”

Auch wenn Lepores Kritik an vielen Stellen übers Ziel hinausschießt, trifft sie doch insofern, als sie darauf hinweist, dass der Kaiser Disruption nur sehr leicht bekleidet ist; sprich: dass Disruption inflationär gebraucht wird und nicht dazu taugt, die Welt zu erklären. Das muss sogar Clayton Christensen in einer ebenso geharnischten Replik einräumen. Die gewichtigste Schützenhilfe kommt von Nobelpreisträger Paul Krugman, der in seinem Blog Lepores Artikel ausdrücklich lobt und als bestes Gegenbeispiel gegen die Disruptionstheorie ausgerechnet Deutschland in Stellung bringt. Wie gelingt es Deutschland, trotz hoher Arbeitskosten ein “Exportkraftwerk” zu sein? “Nicht, indem revolutionär neue Produkte auf den Markt geworfen werden, sondern, indem qualitativ sehr hochwertige Produkte für Leute produziert werden, die dafür auch gern Premiumpreise bezahlen.”

Was fällt, das soll man auch noch stoßen, wusste Nietzsches Zarathustra und wissen die Anhänger der Disruptionsreligion.Vielleicht ist die Disruption nach knapp zwei Dekaden ungebremsten Aufstiegs ihrerseits sturmreif für kreative Zerstörung. “Hier ist ein revolutionärer Gedanke”, schreibt Krugman: “Vielleicht sollten wir uns weniger um Disruption bekümmern und mehr Energie darauf verwenden, die Dinge, die wir tun, gut zu tun.” Einem deutschen Ingenieur braucht man das nicht zweimal zu sagen. Vielleicht schwingt jetzt das Pendel zurück, und die viel belächelte “inkrementelle Innovation” – die sanfte Verbesserung in kleinen Schritten – wird öffentlich rehabilitiert.

Wenn man nicht gerade – memento Kodak – in den Kegel eines digitalen Erdrutsches gerät, liegt in der Ruhe tatsächlich die Kraft. Zwischen paralysierter Lähmung und angstinduziertem Aktionismus verläuft ein goldener Pfad substantieller Selbsterneuerung. Wie beim Zinseszins-Effekt können sich selbst kleine, konsequente Schritte über die Zeit akkumulieren und potenzieren – mit dem Vorteil, dass die Leistungsträger im Unternehmen nicht durch ständig neue Wellen von Change-Prozessen verunsichert werden.

Die passende Parole dazu stammt von Deng Xiaoping, der 1980 mit einer Milliarde Chinesen den Aufbruch in eine ungewisse postkommunistische Zukunft wagte: “Nach den Steinen tastend den Fluss überqueren.” Nicht nur für das bevölkerungsreichste Land der Welt ist diese adaptive Strategie ökonomisch aufgegangen.

Auch andere große Tanker haben bewiesen, dass sie sich durch stetige Metamorphose am eigenen Schopf aus dem Sumpf generischer Konkurrenz ziehen können. IBM, als “Big Blue” mehrfach totgesagt, praktiziert diesen geschmeidigen Wechsel von Stand- und Spielbein seit über 100 Jahren: von Lochkarten über Mainframes, PCs und Laptops zu IT-Lösungen und Cloudservices.

Deutsche Traditionsunternehmen stehen dem in nichts nach: Mannesmann, ursprünglich im Geschäft mit Stahlröhren, ist zum Mobilfunkkonzern Vodafon mutiert. Der Hannoversche Montanmischkonzern Preussag hat sich neu erfunden als Tourismus-Weltmarktführer Tui. Und selbst die abgestoßenen Teile bleiben ja nicht gänzlich auf der Strecke, sondern werden unter fremder Ägide oft erfolgreich weitergeführt, IBMs Laptops bei Lenovo, Mannesmanns Röhren bei der Salzgitter AG: Zellteilung statt Zerstörung.

Das Bild vom Fortschritt, welches sich daraus ableitet, ist nicht das Schlachtengemälde eines asymmetrischen Cyberkrieges mit stolpernden Riesen, sondern das lebensfrohe Panorama eines diversen Ökosystems, in dem evolutorische Anpassung regiert. Es entspricht der Idee, die Nassim Taleb, der große Skeptiker unter den Zukunftsforschern, seinem opus magnum “Antifragilität” zugrunde legt: hochgezüchtete Monokulturen sind anfällig für externe Schocks. Vielfältige Ökotope hingegen können daran sogar wachsen, was sie unszerstörbar macht. Diversifizierte Konzerne mit resilientem Kapitalpolster haben demnach sogar einen potentiellen Vorteil gegenüber hochgetunten Start-ups.

Weil die Zukunft, so Taleb, immer noch etwas unerwarteter ist als wir annehmen, braucht es ein breit aufgestelltes Portfolio an Zukunftsoptionen. Umgekehrt macht zu viel Planung Unternehmen verwundbar für sogenannte “schwarze Schwäne”, unwahrscheinliche Entwicklungen und außerplanmäßige Innovationsschocks (nicht zu verwechseln mit digitaler Disruption, die die Spatzen von den Dächern pfeifen). In Fundamentalopposition zur Zunft der Trend- und Zukunftsforscher, Change-Manager und Strategieberater ist Taleb deshalb auch kein großer Freund strategischer Planung: “Sie macht das Unternehmen blind für Optionen, indem es sich selbst fesselt und auf einen nicht-opportunistischen Pfad festlegt.” Ähnlich hatte das auch schon Friedrich Dürrenmatt formuliert und zur Grundlage seiner Dramatheorie gemacht: “Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.”

Deshalb ist es durchaus rational, auf Sicht zu fahren und sich opportunistisch anzupassen: Trial and error. Was sich als zukunftstauglich erweist, wird ausgebaut. “Rational opportunistische Business-Drift” nennt Taleb die iterativ über mehrere Generationen verlaufende Suchbewegungen von Großorganisationen nach neuen Quellen der Wertschöpfung. Und führt als Beleg weitere Beispiele an: “Coca-Cola begann als pharmazeutisches Produkt. Tiffany & Co., die Marke für Luxusschmuck, kam als Schreibwarenladen zur Welt. Das mag noch naheliegend erscheinen, aber wie sieht es hiermit aus: Raytheon, die das erste Raketensteuerungssystem gebaut haben, waren einmal eine Kühlschrankfirma (…). Noch krasser: Nokia, bis vor Kurzem Weltmarktfühhrer bei Mobiltelefonen, begann als Papiermühle (zwischenzeitlich waren es mal Gummistiefel). DuPont, heute bekannt für Teflonbeschichtung in Pfannen, Arbeitsflächen aus Corian und das Hartplastik Kevlar, sind tatsächlich als Hersteller von Sprengstoff gestartet. Die Wurzeln des Kosmetik-Hersteller Avon liegen im Haustürverkauf von Druckerzeugnissen.”

Nun erscheint aus dieser Liste ausgerechnet Nokia angesichts der jüngeren Entwicklungen als kein gutes Beispiel für den Erfolg adaptiver Strategien: Beim Versuch, über eine breite Modellpalette allen Mobiltelefon-Trends gerecht zu werden, übersah man den eigentlichen Trend, den das iPhone setzte: ein Smartphone-Modell für alle. Andererseits hätte der Disruption-Ansatz Nokia auch nicht vor dem Absturz bewahrt. Clayton Christensen selbst bekannte einmal im Interview: “Die Vorhersage der Theorie wäre gewesen, dass Apple keinen Erfolg mit dem iPhone haben wird. Die Geschichte hat lautstark dazu gesprochen.” Dazu passt die jüngste Meldung, dass Nokias Netzwerksparte ohne den Ballast des Mobiltelefongeschäftes aufblüht und das Unternehmen  erneut schwarze Zahlen schreibt. Wahrscheinlich ist das schon totgesagte Unternehmen gerade dabei, sich erneut zu häuten und in eine neue, zukunftstaugliche Inkarnation zu schlüpfen.

Die Zukunft ist ein offenes Rennen. Start-ups wie Großkonzerne können jederzeit ins Straucheln geraten und aus der Kurve fliegen. Selbst innovative Giganten wie Apple und Google sind nicht davor gefeit. Aber zu glauben, mit Disruption hätte man eine Formel gefunden, diese fundamentale Zukunftsungewissheit auf magische Weise zu bannen, ist eine trügerische Scheinsicherheit. Wenn wir dennoch etwas von Clayton Christensen und seinem über die Jahre weiter entwickelten Theorie-Ansatz lernen können, dann ist es dies: Besser, du kannibalisierst dich selbst. Sonst tut es ein anderer.
Die Antwort, die Christiensen aus seiner akademischen Arbeit, mehr noch aus seiner praktischen Beratertätigkeit auf die Frage destilliert hat, wie sich Großorganisationen gegen Disruption wappnen können, ist kontraintuitiv und verträgt sich nicht mit dem Entscheidungs-Koordinatensystem, in dem CEOs üblicherweise operieren: mit einer neuen Idee eine wirklich unabhängige Abteilung ausgründen, die – am besten räumlich von der Zentrale getrennt – wie ein Start up funktioniert. Deshalb wird sie auch so selten befolgt. Warum sollte man alles neu erfinden, eine völlig neue Belegschaft anheuern, eine eigene Marketingabteilung etc. aufbauen, wo man doch die Experten im Haus hat, von deren routinierter Expertise man profitieren könnte? Eben deshalb: um das neue Geschäftsfeld nicht durch das gelernte Erfahrungswissen der Organisation zu kontaminieren. So wertvoll die in Konzernen versammelte Expertise ist, so sehr reproduziert sie auch die blinden Flecken und toten Winkel der Organisation: die unreflektierten Wahrheiten, die dort schon immer gegolten haben. Damit morgen nicht wie gestern wird, ist systematisches Entlernen, schnelleres und besseres Scheitern notwendig, das in der Regel nur eine frische Mannschaft leisten kann. Die Kunst besteht darin, diese ausgelagerten Hotspots und schnellen Brüter der Innovation am Ende so mit dem Kerngeschäft des Konzerns zu verzahnen, dass es nicht zu Kulturkonflikten kommt. Viele kleine Revolutionen so zu moderieren, das daraus ein kontinuierlicher Reformkurs der sanften Selbsterneuerung wird – das wird die vornehmste Managementaufgabe der Zukunft sein.

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