Ich shoppe, also bin ich

In der Ausstellung “Shopping” kommt man sich vor wie im Supermarkt. Ums Einkaufen geht es auch im neuen Buch von Norbert Bolz. Von Holm Friebe, erschienen am 20.11.2002 in Jungle World.

 

Im Roman “Größe und Niedergang des César Biorotteau” von 1834 schickt Honoré de Balzac seine Hauptfigur im emotionalen Ausnahmezustand einkaufen: “César verliebte sich auf der Stelle so unsterblich in Constance, dass er in wütender Hast in den ‘Petit Matelot’ hineinging und sechs Leinenhemden bestellte, über deren Preis er lange handelte und wobei er sich ganze Ballen von Leinen vorlegen ließ, gerade wie eine Engländerin, die Lust zum Einkaufen (shopping) hat.”

Das dürfte eine der ersten Erwähnungen und gleichzeitig eine der ersten präzisen Beschreibungen des Shoppings, dieser neuen, gerade erst im Entstehen begriffenen Kulturtechnik, in der Literatur sein. Balzac, einer der großen Soziologen vor der Erfindung der Soziologie, stellt bereits fest, dass es beim Shopping um mehr geht als um die Güterbeschaffung. Shopping ist ein zwanghafter Selbstzweck, ein soziales Spiel, und nicht zuletzt eine erotische Kompensation.

 

Die Geburt des Shopping fällt zusammen mit der Geburt der Kaufhäuser, etwa des erwähnten “Petit Matelot”, das Balzac wie folgt beschreibt: “Es war eines der ersten Geschäfte, die sich seither in Paris mit mehr oder weniger gemalten Reklameschildern, flatternden Spruchbändern, Schaukästen mit aufgehängten Schals, mit Krawatten, arrangiert wie Kartenhäuser, und tausenderlei anderer händlerischer Verführungskünste etabliert haben, mit festen Preisen, kleinen Leisten, optischen Täuschungen, und all das zu einem solchen Grad der Vollkommenheit gesteigert, dass die Ladenschaufenster zu kaufmännischen Dichtungen wurden.”

 

Kaufmännische Dichtungen. Obwohl die säkular-sakrale Inszenierung von Waren, die mit Niketown, den Brand Zones und den Flagshipstores der Luxusmarken heute ihren vorläufigen Höhepunkt findet, erst ganz am Anfang stand, hat Balzac schon eine Ahnung davon, dass Kunst und Kommerz, der profane Profit und die Erhabenheit, enger verschlungen sind, als es das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert wahrhaben wollten. Dazwischen liegen die Industrialisierung, der Aufstand und das Ornament der Massen, was sowohl die Menschenmassen, als auch die Massenproduktion einschließt. Aber es geht auch um das Aufbäumen und die Rückzugsgefechte einer den Druck der Massen spürenden bürgerlichen Hochkultur, die glaubte, sich gegen jede Form der Warenförmigkeit imprägnieren zu müssen.

 

Geht man von einem Paragone aus, einem Wettstreit der Disziplinen um ästhetische Vorherrschaft und Relevanz, so dürften die Werbung und die Warenkultur im frühen 20. Jahrhundert die bildenden Künste um einiges überflügelt haben. “Der herrschende Geschmack bezieht sein Ideal von der Reklame, der Gebrauchsschönheit. So hat sich das sokratische Wort, das Schöne sei das Brauchbare, am Ende ironisch erfüllt”, orakelten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon 1947 in ihrer “Dialektik der Aufklärung” und klammerten sich an das Nichtidentische im Haus der Hochkultur.

 

Aber die Abrissbirne der Kulturindustrie, die “alles mit Ähnlichkeit schlägt”, leistete ganze Arbeit, riss tragende Wände ein und vernichtete Zimmer um Zimmer. Es oblag der Pop Art der Sechziger, Horkheimers und Adornos Prophezeiung kaltschnäuzig positiv zu wenden. Sie schubste auch noch die letzte Kulissenfassade um, die bis zum Schluss den Schein gegenüber der Öffentlichkeit wahren sollte. Auf dem daraufhin frisch planierten Gelände wurde ein Supermarkt errichtet.

 

“The American Supermarket” hieß eine Gemeinschaftsausstellung, die 1964 in einem New Yorker Ladenlokal eröffnet wurde. Das Drehkreuz am Eingang, die Plakate, das Interieur, selbst die säuselnde Musik – alles deutete auf die Eröffnung eines neuen Supermarktes hin. Zwischen den frischen Waren gab es Chrom-Eier von Bob Watts, Campbell’s-Suppendosen von Andy Warhol oder einen Truthahn aus Pappmaché von Roy Lichtenstein zu erratisch anmutenden Preisen.

 

Die Eröffnung war trotz der Verwirrung, die sie stiftete, ein großer Erfolg. “Der Supermarkt war als Environment geplant, in dem die Gemälde und Objekte, die Konsumprodukte abbildeten, verwirrenderweise wieder in ihren ursprünglichen Kontext gestellt wurden, wodurch die distanzierende Autorität des White Cube – die ihre Erhöhung zu Kunstwerken überhaupt erst ermöglicht hatte – auf den Kopf gestellt wurde”, schreibt Christoph Gruneberg im Katalog zu der in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle immer noch stattfindenden Ausstellung “Shopping”, für die der komplette “American Supermarket” erstmals vollständig rekonstruiert wurde. Diesmal, und das nicht ohne Ironie, in der distanzierenden Autorität der Schirn, in der man die Objekte weder anfassen noch käuflich erwerben kann.

 

Noch einen weiteren Supermarkt gibt es hier, der quasi als Adaption des “American Supermarket” den irritierenden Auftakt zur Ausstellung bildet, eine von Guillaume Bijl eingerichtete Tengelmann-Filiale, komplett mit verderblichen Frischwaren, die jeden Tag ausgetauscht werden, tagesaktuellen Zeitungen, Dekomaterialien und einer vollständig funktionsfähigen Kasse. Ein unschwer als Ladendetektiv zu enttarnender Museumsangestellter wacht darüber, dass keine der perfekt drapierten Waren angefasst wird.

 

Arnulf Rainers sehr passender Maxime zugrunde gelegt, wonach “ein Kunstwerk verstehen heißt, es zu kaufen”, erschließt sich Bijls Installation gerade dadurch, dass hier entgegen aller Intuition nichts gekauft werden kann. Dadurch schärft sie die Sinne für das im jungfräulichen Idealzustand konservierte Shopdesign, und lässt beispielsweise die von der Decke hängenden Tafeln mit grinsenden Gemüsen gespenstisch surreal erscheinen.

 

Der Einkaufswagen, das Allroundvehikel zur Begehung des Terrains Supermarkt, taucht als Objekt gleich dreimal in der Ausstellung auf. Einmal als vergoldete Ikone von Sylvie Fleury, einmal verpackt von Christo und einmal ins Gigantomanische verlängert von Mauricio Catellan. Die Freudsche Lesart ökonomischer Potenz als Kompensation findet hier eine schöne ikonographische Entsprechung.

 

In weiteren, aufwendigen Interieurs, erleben wir den steril weißen Prozac-Alptraum von Damien Hirsts “Pharmacy”, einen mit Plastiktrash voll gerümpelten Pavillon von Ben Vautier, einige povere DDR-Verpackungen von Joseph Beuys, sowie Jeff Koons’ “New Hoover Deluxe Shampoo Polishers”. Darin verbergen sich sakral hinter Plexiglas entrückte und neonilluminierte Neugeräte zur Raumpflege. Über sie weiß Max Hollein, der Kurator der Ausstellung, im Katalog zu berichten: “Markenprodukte, Alltagsobjekte, massenproduzierte Konsumartikel sind primäre Identifikationsmerkmale einer konsumorientierten und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft. Dabei sind die Rituale und Zeichen des Shoppings oft nicht weit von denen der Kunstwelt entfernt … Die Ästhetik der Waren, der Glanz der Dinge erzeugt eine synthetische Umgebung des permanenten Begehrens und Begehrt-sein-wollens. Waren bekommen dabei eine neue Identität, Bedeutung und Seele. Und das bei keinem mehr als Jeff Koons.”

Im Falle von Koons mag das zutreffen, als Gegenwartsdiagnose und Annäherung an das Kulturphänomen Shopping taugt es wenig. Und das färbt auf die gesamte Ausstellung ab, die trotz eines beträchtlichen logistischen Aufwands eine Aura der Plattheit und Trivialität zurücklässt. Merkwürdig anachronistisch muten die voll gestellten Regale an, die zur Kunst erhobenen Bauchläden, die halb ironischen Auseinandersetzungen mit der Serienproduktion.

 

Vielleicht weil die Kunst, die in der Überflussgesellschaft angekommen ist, mal wieder hoffnungslos der Ökonomie hinterherhinkt. Wer begehrt heute noch einen Staubsauger? Wer benutzt heute noch einen Einkaufswagen beim Shopping? Der Supermarkt zur Bedarfsdeckung hat, was Balzac bereits wusste, eben nichts mit Shopping als Kulturtechnik zu tun. Und die Inszenierung des Überflusses und der Verfügbarkeit gehört in die fünfziger Jahre. Heute geht es um die Inszenierung der Knappheit und der Kostbarkeit, um den Verkauf von spirituellem Mehrwert.

 

“Jetzt muss man Dinge verkaufen, die eigentlich unsichtbar sind. Und die Kunden melden Bedürfnisse an, die man früher an Kunst und Religion adressiert hat”, schreibt Norbert Bolz in seinem kürzlich unter dem effektvollen und irreführenden Titel “Das Konsumistische Manifest” erschienenen Traktat. Weit entfernt vom apodiktischen Manifestcharakter des historischen Vorbildes, liefert es eine am 11. September 2001 beginnende, weit ausschweifende Analyse des Status quo der Konsumgesellschaft westlicher Prägung.

 

Dass sie auf eine Apologie des Konsums hinausläuft, somit dem Wunsch nach Veränderung, den man einem Manifest unterstellt, von vornherein zuwiderläuft, dürfte wenig verwundern. Vor allem wenn man um die tiefe Erdung des Bolzschen Denkens in der Luhmannschen Systemtheorie weiß, die bekanntlich das Soziale als gut geölte Maschine auf Autopilot modelliert. Manifest meint hier also nur eine Manifestation des Bestehenden.

 

Obwohl das Buch voller Gemeinplätze und voller Gedanken ist, die Bolz bereits andernorts ausgiebig entwickelte, ist es doch in vielerlei Hinsicht schlauer als die Ausstellung, die ihren Mehrwert nur als historische Aufarbeitung von “100 Jahren Kunst und Konsum” erzeugt. Die einzigen Arbeiten, die der spirituellen und metaphysischen Dimension dessen gerecht werden, was wir heute unter dem Begriff “Shopping” zu verstehen beginnen, sind die wandfüllenden Fotoarbeiten von Andreas Gursky, die mit dem unbestechlichen Auge der Plattenkamera die ästhetische Perfektion einer Prada-Auslage einfangen.

 

Und natürlich Barbara Krugers emblematische Arbeit “I shop therefore I am”, deren Slogan die Einkaufstasche zur Ausstellung schmückt, die am Eingang für 20 Euro gekauft werden kann. Kruger hat im Kontext der Ausstellung und in derselben Ästhetik ein gigantisches Blow up-Plakat an einem Kaufhaus in der Frankfurter Zeil anbringen dürfen, auf dem über dem Überwachungsblick zweier riesiger Augen steht: “Du bist du – das ist neu – das ist nichts – das ist alles” und “Du willst es – du kaufst es – du vergisst es”.

 

In diesen beiden Slogans schlummert die Erkenntnis, dass es beim Shopping heute längst nicht mehr um den Wunsch nach Waren geht, sondern um den nach Identität. Bolz beschreibt es so: “Wenn die Menschen nur einkaufen gehen würden, weil sie etwas brauchen, und wenn sie nur kaufen würden, was sie brauchen, wäre die kapitalistische Wirtschaft längst zusammengebrochen.” Was sich im Akt des Shoppings vollzieht, und was Naomi Klein in ihrer Analyse der Lifestyle-Brands richtig beschreibt, ist die Suche nach Orientierung, Identifikation und Identität.

 

“Es ist deshalb eine wesentliche Aufgabe des Marketing und der Werbung, Formulierungshilfe bei der Eigenkonstruktion von Geschichten zu geben, mit denen sich dann Individuen identifizieren können”, schreibt Bolz. Das erklärt nicht zuletzt die für Außenstehende mitunter verblüffende Selbstironie und die repressive Toleranz, die das heutige Marketing an den Tag legt: “Im Sinne eines Re-entry tritt die Unterscheidung Mainstream – Subkultur in den Mainstream selbst wieder ein”, bis hin zu der schönen Paradoxie, dass Firmen “dem Kunden sogar auf dem Markt suggerieren, dass er mit der Firma gegen den Markt konspiriert”. Damit ließe sich dann selbst der Buy-nothing-day, der am 31. November wieder weltweit stattfinden soll, als Marketingtool instrumentalisieren und als Shopping-Event aufladen. Ein Konsumboykott sponsored by Nike!

 

Man darf anderer Meinung zu dem sein, was Bolz mit globaler Perspektive schreibt: “Gerade auch die Linke, die einen rein politischen Fortschrittsbegriff pflegt, hätte gute Gründe, statt immer nur sentimentale Schwarzbücher des Kapitalismus zu fabrizieren, noch einmal über die zivilisatorischen Effekte des Marktsystems nachzudenken.” Man muss im Shopping auch nicht wie der Architekt Rem Koolhaas “die finale Aktivität des Menschen” oder wie Norbert Bolz “die letzte öffentliche Handlung – und damit das eigentliche Organisationsprinzip einer Stadt” erkennen, um sich dennoch mit der Kritik am Konsum kritisch auseinanderzusetzen.

 

In Jungle World.

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