It’s the Creative Economy, Stupid!

Beitrag im Sammelband “Das Bauhaus kommt aus Thüringen – Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen” von Matthias Machnig und Dirk Kiefer (Hrsg.), Böhlau 2013

Wovon reden wir, wenn wir von Kreativwirtschaft reden? Was für damit professionell befasste Politiker und Bürokraten eine klare Gestalt hat, verschwimmt beim Versuch, ranzuzoomen und scharfzustellen. Seit den 1990ern werden in Deutschland Kulturwirtschaftsberichte kompiliert, die versuchen, den Beitrag der Kultur- und Kreativwirtschaft zu Beschäftigung und Bruttoinlandsprodukt in harten Zahlen dingfest machen. Die Probleme beginnen bereits beim Zuschnitt der “Branche”, die ungleich heterogener und disparater ist als klassische Industriezweige wie Chemie oder Automotive. Was ist drinnen, was ist draußen? Natürlich liegt es im Interesse der Verfasser, die sich als “Lobby der Kreativen” begreifen, die Branche möglichst imposant erscheinen zu lassen, weshalb in Nordrhein-Westfalen etwa auch die Bautätigkeit für Theater und Museen oder die Herstellung von Kinoprojektoren zur Wirtschaftsleistung der Kreativwirtschaft zählt. Unstrittig ist nur das heiße Zentrum der klassischen Kulturberufe, die die “prima Materia” liefern: bildende Künstler, Schriftsteller, und Musiker. Bei den Verwertern wird es schon unschärfer: Verlage und Musiklables fallen darunter, Fernsehsender tendenziell nicht. Vollends schwammig wird es bei der Abgrenzung des Kreativsektors, worunter gemeinhin Design, Mode, Werbung und Computerspiele gefasst werden, manchmal auch Softwarefirmen und Teile des Handwerks. Wenn Architekten dazu zählen, warum dann keine Friseure und Tätowierer? Wenn Schauspieler darunter fallen, warum dann keine Pornodarsteller?

Schwerer wiegt, dass sich die unter Kultur- und Kreativwirtschaft Subsummierten, fragte man sie danach, sich in den seltensten Fällen selbst einer solchen Branche zugehörig fühlten. Sie sehen sich als Künstler, Literaturverleger oder Webdesigner; das Hemd der eigenen Profession ist ihnen näher als die Hose der Kreativwirtschaft. Selbst innerhalb einer Sparte gibt es entlang der Wertschöpfungskette kaum eine gemeinsame Interessenlage, oft sogar antagonistische Positionen. Freie Journalisten wehren sich gegen die Buy-out-Klauseln von Zeitungsverlagen, Clubbetreiber ächzen unter den Gema-Gebühren, die im Interesse der Musikproduzenten erhoben werden. Verlage bangen um das Copyright, dessen Lockerung neue Geschäftsfelder für Web-Start-ups eröffnet. Die Risse und Gräben laufen quer durch das Feld; manche sind regelrecht zu gut befestigten Schützengräben ausgebaut worden.

Auch wenn Richard Florida für seine populäre Beschreibung der “creative class” das Lasso noch weiter als die meisten Autoren hiesiger Kulturwirtschaftsberichte auswirft und selbst Zahnärzte zur Kreativklasse zählt, kann von einer gemeinsamen “Klassenlage” im Marx’schen Sinne also keine Rede sein. Um es ganz platt mit dem Titel eines Theaterstücks von René Pollesch zu sagen: “Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat”. Das macht es für die wohlmeinende Politik nicht gerade leicht, mit dem klassischen Besteck der Industrieförderpolitik etwas für die Branche zu tun, die sie sich als Golem selbst konstruiert hat. Und das macht es so schwierig, jenseits der fragwürdigen statistischen Erhebungen überhaupt sinnvoll über den ökonomischen Beitrag der Kreativwirtschaft zu reden.

Dies gesagt habend muss man natürlich einräumen, dass mit der stärkeren Wahrnehmung des Sektors durch die Politik schon etwas gewonnen wurde. Seit Tony Blair Anfang der 1990er im deindustrialisierten Großbritannien feststellte, dass der Beitrag des Britpop zur Außenhandelsbilanz den der Stahlindustrie übersteigt, und die “creative industries” unter dem Label “Cool Brittania” zum Wahlkampfthema machte, hat das Sujet politische Konjunktur. Kein sich fortschrittlich gebender Politiker kann es sich heute mehr erlauben, die Kultur als “nice to have” gegenüber den klassischen wertschöpfungs- und beschäftigungsintensiven Industriezweigen gering zu schätzen. Und dass Copyrights “das Öl des 21. Jahrhunderts” sind, hat sich inzwischen sogar bis zu den Industriepolitikern und Mittelstandsförderern alten Schlages herumgesprochen. Das immerhin wäre erreicht.

Kultur vs. Kommerz

Es gibt eine weitere Komplikation in Kontext Kultur und Ökonomie, die weniger mit Heuristik als mit Befindlichkeiten zu tun hat. Und zwar hat auch das werbende Klappern für die Kreativwirtschaft nicht dazu beigetragen, dass es insbesondere in Deutschland immer noch häufig als Frivolität empfunden wird, über Kultur überhaupt in ökonomischen Termini zu sprechen und nachzudenken. Im Gegenteil könnte es glatt dazu beigetragen haben, die Abwehrreflexe noch zu verstärken. Eingepreist in diese Haltung ist womöglich das alte Thomas-Mann-Sentiment, dass die Deutschen die hehre Kultur besäßen, während der Rest des Westens nur mit der schnöden Zivilisation aufwarten könnten. Auf jeden Fall hallt darin der perfekte Alptraum des kulturpessimistischen Bildungsbürgers nach, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit ihrem berühmten “Kulturindustrie”-Kapitel aus der “Dialektik der Aufklärung” so fulminant in Worte gefasst haben: Kultur wird zum Massenbetrug, sowie sie sich auf die Verkehrsformen der industriellen Massenproduktion einlässt. Wo sie auf den Markt treffen, verflachen die Produkte der Kultur, werden austauschbare Repräsentanten einer “ökonomischen Riesenmaschinerie”, die “alles mit Ähnlichkeit schlägt”.

Dahinter schlummert ein Geniekult, der davon ausgeht, dass kulturelle Höchstleistungen und wahre Kunst nur in der welt- und marktabgewandten Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms und der Künstlerkemenate entstehen kann. Bei “creative industries” hören die Verfechter der Hochkultur in Deutschland “Kulturindustrie” und entsichern ihren Revolver. Nach dieser Lesart, die sich in wolkigen Formulierungen wie “Kultur ist Daseinsvorsorge” und Bestrebungen niederschlägt, “Kultur als Staatsziel” in der Verfassung niederzuschreiben, ist Kultur etwas von dem man tendenziell nie genug haben kann, dass sich dem ökonomischen Diskurs damit per se entzieht. Damit ist die Kultur – als öffentliche Förderkultur – scheinbar imprägniert dagegen, sich nach dem Verhältnis von Ressourceneinsatz und Output befragen lassen zu müssen.

Im Angelsächsischen hat man traditionell weniger Probleme mit dem fließenden Übergang und der Verschränkung von “high-” und “lowbrow”. Und historisch betrachtet die sogenannte “Autonomie der Kunst” ein seltener Sonderfall. Künstler haben schon immer der Kirche, dem Hofe oder dem Markt gedient. Die Werkstätten von Raffael und Rembrandt waren mittelständische Betriebe, so wie es heute die Studios von Jeff Koons, Olafur Eliasson oder Anselm Reyle sind. Selbst in Deutschland gibt es diese Traditionslinie. Die Künstler des Werkbunds, dessen Ideen später im Bauhaus aufgingen, träumten von einer Welt, in der “Kultur und Ökonomie dieselbe Sprache sprechen” würden. An diesem Punkt stehen wir heute wieder. Aber wie könnte so eine Sprache aussehen, die den Eigengesetzmäßigkeiten der kulturellen Wertschöpfung gerecht wird und nicht bei jedem einzelnen Artefakt danach fragt, wie es sich rechnet und verzinst?

Dafür muss man zunächst anerkennen, dass es sich bei Kunst und Kultur um ein “hit driven business” handelt. Das heißt: Weil Kultur in ihrer Avantgardefunktion eine Suchbewegung für neue Ästhetiken und individualisierte Lebensstile darstellt, kann prinzipiell nicht vorhergesagt werden, welches Produkt und welche künstlerische Position floppt, welche sich als gültig und ergiebig erweist. Deshalb kann es nicht darum gehen, das einzelne Produkt oder jede künstlerische Produktion im Vorhinein durchzukalkulieren. Die Mischung des gesamten Portfolios muss stimmen; der Versuch, Quersubventionierungen zu kappen, geht am Wesen eines solchen Marktes vorbei. Venturekapital-Geber beherzigen diese Logik seit jeher ebenso selbstverständlich, wie es Buchverlage traditionellerweise tun.

Ein weiterer wichtiger Baustein für eine saubere Argumentation des ökonomische Wertes der Kultur ist das Konzept des “meritorischen Gutes”. Meritorische Güter – deren Existenz von einigen hartgesotten-liberalen Ökonomen rundweg abgestritten wird – sind solche, die vom Markt nicht in ausreichender oder wünschenswerter Menge nachgefragt werden. Deshalb muss der Staat an dieser Stelle als Nachfrager auftreten und die Lücke schließen. Ursache solcher meritorischen Güter kann sein, dass sie externe Effekte, sogenannte “Spillovers” produzieren, die sich an anderer Stelle positiv bemerkbar machen, ohne dass sie dem Ursprung preislich zugerechnet werden könnten. Eine gängige Veranschaulichung im Bereich Kultur sind Theateraufführungen oder Museumssausstellungen, die Touristen anlocken und so die Hotelübernachtungen in die Höhe treiben. Richard Florida argumentiert, dass die kulturelle Attraktivität eines Standortes, indem sie die Talente der “kreativen Klasse” anlockt, signifikant korreliert ist mit der ökonomischen Prosperität. Diese Argumente zielen noch relativ linear auf die Rolle von Kultur als weicher Standortfaktor ab.

Aber gerade die Kreativwirtschaft generiert darüber hinaus eine Reihe von nichtlinearen Effekten und Spillovers, die sich nur schwer oder gar nicht erfassen und quantifizieren lassen. “Witz und innovatives Handeln” machen nach der Definition von Paolo Virno das Wesen der Kreativität aus. Die Kreativwirtschaft als Ganzes und in Teilen ist Nährboden und Durchlauferhitzer für Innovationen jenseits der technischen Innovationen, die sich in Patenten und Produktinnovationen niederschlagen, sondern in neuen Praktiken und Protokollen. “Low-Tech-”, “social” und “hidden innovations”  sind die Suchbegriffe, mit denen nach diesen verborgenen Nutzen-Dimensionen und alternativen Quellen gesellschaftlichen Fortschritts geforscht wird.

John Howkins, der Anfang der 1990er maßgebliche an der Entwicklung des Konzeptes der “ereative economy” und dessen Popularisierung in Großbritannien beteiligt war, spricht deshalb in seinen jüngsten Veröffentlichen nur noch von “creative ecologies” – kreativen Ökosysteme, die als  Austauschkreisläufe und komplexe Stoffwechselsysteme modelliert werden. Nach diesem erweiterten Innovationsverständnis basieren Wertschöpfungsprozesse wie in einem intakten Ökosystem auf kultureller und sozialer Diversität, auf Wandlungsbereitschaft, auf Lernprozessen und auf der Fähigkeit zur kulturellen Adaption neuer Technologien und Trends. Hier leistet die Kultur- und Kreativwirtschaft einen enormen, wenn auch kaum zu beziffernden Beitrag – als kreative Grundlagenforschung für eine Gesellschaft, in der Innovationen aus komplexen und nichtlinearen Wirkungszusammenhängen entstehen.

Die Kreativwirtschaft als fitness landscape

Wie kann man sich also die ökonomische Landschaft der Kreativwirtschaft vorstellen? Um die Ausdifferenzierung der Arten im Zuge ihrer Selektions- und Anpassungsprozesse zu visualisieren, hat die Evolutionsbiologie das Bild der “fitness landscape” hervorgebracht. Damit ist kein evolutionärer Trimm-Dich-Parkours gemeint, vielmehr handelt es sich um ein imaginäres Gebirge mit lokalen Maxima optimal angepasster Arten und Tälern dazwischen, die die Artenschranken markieren. Um dieses Bild für unsere Fragestellung fruchtbar zu machen, können wir zusätzlich einen Meeresspiegel einziehen: das ist die Linie, ab der sich Kulturproduktion am Markt selbst trägt. Alles, was oberhalb von Normalnull liegt, verfügt über ein autonom funktionierendes Geschäftsmodell. Alles, was darunter liegt, muss in der ein oder anderen Form alimentiert werden, womit nicht gesagt ist – siehe oben die Feststellungen zu meritorischen Gütern – dass es sich dabei um einen rein mäzenatiischen Akt der Philantropie handelt.

So erhalten wir ein plastisches Bild: Es gibt steil aufragende Gebirgsmassive und Hochplateaus, die die größte tektonische Dynamik aufweisen: das sind die neuen prosperierenden Sparten der Softwareentwicklung, der Gaming-Industrien und der Designwirtschaft. Sie haben sich erst in jüngster Zeit aus dem Meer erhoben und ragen nun imposant auf. Um sie muss man sich wenig Sorgen machen, auch wenn Sie von Erdbeben erschüttert werden und ab und zu Teile wieder ins Meer zurückbrechen. Es gibt den alten Kontinent der klassischen Kulturökonomie: Buch- und Zeitungsverlage, Kinos, Musiklabels- und Verlage: Diese Regionen bestehen vorwiegend aus Flachland nur knapp oberhalb der Wasserlinie und werden in letzter Zeit häufiger von Überschwemmungen heimgesucht. Aber auch hier gibt es spitze Felsnadeln, die hoch über das Flachland aufragen: das sind die Leuchttürme der Kulturwirtschaft, die als positive Fixpunkte herhalten können und in deren Windschatten ein ökonomisch robustes Hinterland existiert.

Es gibt flache Atolle, gebildet aus kleinen Inseln der Liebhaberei: das sind Galerien, Kleinverlage und Modelables, deren Bewohner oft ein materiell eher karges Dasein nah an der Subsistenz fristen, dafür aber mit den schönsten Stränden und artenreichsten Korallenriffen belohnt werden. Ferner gibt es die Niederlande der subventionierten Hochkultur, die immer schon unter dem Meeresspiegel lagen: das sind die Opernhäuser, staatlichen Museen und Theater. Würde man die die Pumpen abstellen, die Deiche abreißen oder verkommen lassen, würden diese Landstriche unweigerlich absaufen. Aber niemand hätte ein Interesse daran, da die Ebenen unterhalb des Meeresspiegel-Niveaus zu den fruchtbarsten und ergiebigsten zählen.

Daneben gibt es eine – zumeist jüngere – Population, die auf Flößen lebt. Es sind dies die Projektemacher, ewigen Praktikanten und Enthusiasten, die das Klischee der “brotlosen Kunst” für sich gepachtet zu haben scheinen. Fernab des Festlandes müssen sie künstlich aus der Luft ernährt und mit Trinkwasser versorgt werden. Meist geschieht das durch Alimente der vermögenden Elterngeneration oder mittels staatlicher Transfairleistungen. Obwohl diese kreativen Boatpeople nur einen kleinen Ausschnitt der kulturwirtschaftlichen Gesamtbevölkerung ausmachen, und obwohl ihre Chancen, einmal festen Grund unter die Füße zu bekommen, nicht schlecht stehen, sind es doch diejenigen, die stark im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen, wenn es um “prekäre Verhältnisse” geht, in denen Kunst- und Kulturproduzenten leben.

Den technischen Fortschritt können wir in dieses Modell einführen einerseits als Klimawandel, andererseits als Plattentektonik: Steigt der Meeresspiegel klimabedingt, werden ganze Landstriche überflutet oder zu Brackwasserzonen, so geschehen etwa mit Teilen der Musikindustrie. Auch der Journalismus, die Film und Buchbrachnche fühlen sich durch die Digitalisierung bedroht, weshalb die Rufe lauter werden, mit staatlichen Mitteln Deiche einzuziehen und neue Polder zu errichten. Gleichzeitig heben sich durch den technischen Fortschritt ganze Kontinente aus dem Meer, die früher unterhalb des Wasserspiegels lagen und damit allenfalls als privates Hobby betrieben werden konnten. Web-Plattformen wie Etsy.com oder Dawanda.de etwa haben boomende Marktplätze für eine neue Crafting-Bewegung entstehen lassen, wo vorher nur brotloses Kunsthandwerk war.

Im Ganzen ergibt die Analogie der Kreativwirtschaft als fitness landscape eine vielschichtig fragmentierte Land- und Seekarte, deren Küstenlinie sich zudem dynamisch im Zeitraffer verändern. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Will man etwas über das Gesamt-Ökosystem erfahren, kommt man nicht umhin, einzelne Landstriche und Regionen, deren Topografie und Mikroklima genau zu studieren.

Ein Stück die Straße runter

Was sich indes wasserdicht argumentieren lässt, ist, dass die der Anteil kreativer Arbeit an der volkswirtschaftlichen Gesamtwertschöpfung in den westlichen Industrienationen – und damit die Bedeutung der Kreativwirtschaft als Ganzes – weiter wachsen wird. Das lässt sich allein daraus herleiten, dass der Anteil der immateriellen Wertschöpfung wächst: Arbeitete um 1900 noch die Hälfte der deutschen Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft, waren es 2000 gerade noch drei Prozent, denen es aufgrund der Produktivitätsfortschritte problemlos gelang, die Gesamtbevölkerung zu ernähren. So ergeht es gerade dem verarbeitenden Gewerbe und sogar Teilen des Dienstleistungssektors, der von Automatisierung auch nicht verschont bleibt. Das bedeutet in gesamtwirtschaftlicher Perspektive, dass sowohl Arbeitskräfte als auch Anteile der verfügbaren Haushaltseinkommen freigesetzt werden und neue Märkte entstehen.Naturgemäß werden das Angebote, Produkte und Services sein, die in der Spitze der Maslowschen Bedürfnisspyramide ansiedeln, also dort, wo es um Selbstverwirklichung und Sinnstiftung geht. Erfahrungen, Bildung, psychisches und körperliches Wohlbefinden sind die Wachstumssegmente, die auf eine älter werdende Bevölkerung mit postmateriellen Bedürfnissen reagieren.

Viele dieser Berufe kennen wir heute noch gar nicht, sie werden erst noch entstehen. Wer hätte vor 15 Jahren gedacht, dass “Search Engine Optimierer” einmal zu den gesuchten und hoch-dotierten Experten zählen würden. Das US-Wirtschaftsmagazin Fast Company sorgte kürzlich mit der Schätzung für Furore, dass 65 Prozent der heutigen Grundschüler in den USA einmal in Berufen arbeiten werden, die heute noch nicht existieren. Im weitesten Sinne werden das kreative Jobs sein.

Der US-Autor Daniel Pink schärft diesen Gedanken weiter, wenn er in seinem Sachbuch “Drive” über die Entdeckung der intrinsischen Motivation unterscheidet zwischen “algorithmischer” Arbeit, also solcher, die klaren Regeln und Lösungsroutinen folgt, und “heuristischer” Arbeit, sprich: einer Arbeit, bei der Teil der Aufgabenstellung ist, erst noch einen passenden Lösungsweg zu erfinden. Schon heute sieht er für die USA deutlich mehr Job-Zuwächse im Bereich der heuristischen als der algorithmischen Tätigkeiten. Begründung: “Routinetätigkeiten können outgesourced oder automatisiert werden; künstlerische, emphatische Nicht-Routine-Tätigkeiten können das in aller Regel nicht.” Damit ist aber nicht weniger gesagt, als dass das Wesen kreativer Arbeit sich über die bekannten Felder der Kreativwirtschaft – die klassischen Kreativberufe – hinaus über die gesamte Wirtschaft ausbreitet.

Dieser Wandel der Arbeitswelt, der durch technologischen Fortschritt induziert wird, hat Einfluss auf die gesamte Wertschöpfungs- und Wirtschaftsstruktur. Die Digitalisierung hat in vielen Bereichen dafür gesorgt, dass die Nadelöhre des Industriezeitalters wegfallen. Einerseits fallen Markteintrittsbarrieren und der Kapitaleinsatz sinkt. Musik, für die man vor zwanzig Jahren ein voll ausgerüstetes Tonstudio brauchte, lässt sich heute am Laptop produzieren. Andererseits stehen die Kanäle für Marketing und Vertrieb jetzt durch das Internet potentiell allen offen. In der Summe führt dies dazu, dass die Skalenvorteile von Großunternehmen erodieren und die effiziente Betriebsgröße sinkt. Somit wird die Wirtschaftsstruktur insgesamt kleinteiliger und granularer; Mikrobusiness und Soloselbständige spielen künftig eine größere Rolle als es innerhalb der Kreativwirtschaft heute bereits der Fall ist.

Es greift zu kurz, dieses Potential allein im Bereich der immateriellen Wertschöpfung zu verorten. Vielmehr schwappt das Digitale gerade in die Welt der Atome zurück. “Atoms are the new bits” lautet das Credo der wachsenden Maker-Szene, die mittels Fabbing- und Rapid-Prototyping-Technologien hochkomplexe Produkte in der eigenen Garage oder in öffentlichen Werkstätten herstellt. Der US-amerikanische Wirtschaftsautor Chris Anderson sieht hinter dem Trend zum High-Tech-DIY bereits “The Next Industrial Revolution” heraufziehen: Individualisierte physische Produkte und flexible Kleinserienproduktion eröffnen nicht nur neue Handlungsfelder für Designer, sondern könnten auch das verarbeitende Gewerbe in die Industriestandorte und Innenstädte zurückbringen.

Damit geht eine gewandelte und wachsende Bedeutung des Handwerks einher, das zur Kreativ-Disziplin aufsteigt, sofern es das nicht immer schon war. Wir erleben die Renaissance der Manufakturen im digitalen Zeitalter. Es gilt zu verstehen, dass ausgerechnet das Internet traditionelle Gewerbe und Manufakturen gestärkt und wiederbelebt hat, weil es die kritische Masse an Kunden für Nischen- und Liebhaberprodukte weltweit aggregieren kann. Die nächste industrielle Revolution schließt den Kreis und schafft postindustrielle Strukturen, die in vielen Punkten eher Gemeinsamkeiten mit den Verhältnissen vor der ersten industriellen Revolution aufweisen. Vielleicht ist dieser Wandel, der sich noch weitgehend unterhalb des Radars klassischer Kulturpolitik und Wirtschaftsförderung abspielt, das derzeit spannendste Wachstumsfeld innerhalb der Kreativwirtschaft.

Prekarisierung osä.

Wenn dem aber so ist, und der Kreativwirtschaft insgesamt rosige Zeiten bevorstehen – warum ist dann allerorten von den prekarisierten Kulturschaffenden zu lesen, die nicht wissen, wovon sie am Monatsende die Miete bezahlen sollen? Eine viel zitierte Zahl in diesem Zusammenhang ist das Jahreseinkommen der in der Künstlersozialkasse (KSK) versicherten Soloselbständigen in Kreativberufen, dass über alle Bereiche gemittelt bei knapp unter 15.000 Euro, in einigen Segmenten wie bei den darstellenden Künstlerinnen unter 30 Jahren sogar deutlich unter 10.000 Euro liegt. Wie soll man davon leben?!

Die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen: Zum einen basieren sie auf Selbstauskünften der Mitglieder, die zudem als Schätzung am Jahresanfang abgegeben werden müssen. Man ist gut beraten, diese Schätzung möglichst niedrig anzusetzen, um nicht zu viele Abgaben zu zahlen, und es gibt wenig Anreiz, sie nachträglich anzupassen. Das heißt, das real erzielte Einkommen dürfte deutlich höher liegen. Zum anderen bildet die KSK-Statistik nur das Einkommen der in ihr vertretenen Berufsstände ab: das sind die traditionellen Kulturberufe, nicht die neu entstehenden Berufsfelder. Im Katalog der KSK-Berufe findet sich der “Puppen-, Marionetten-, Figurenspieler” ebenso wie der “Jazz- und Rockmusiker”, während Webdesigner und Weddingplaner wenig Aussicht darauf haben, in die KSK  aufgenommen zu werden. Das heißt: Die in der KSK Versicherten bilden nur einen selektiven Ausschnitt der kreativen Freiberufler ab. (Hier muss auch die Kritik an dieser vor 30 Jahren durchaus einmal fortschrittlich gedachten Absicherungsmöglichkeit für Kreativschaffenden ohne Arbeitgeber ansetzen, weil sie heute mehr Ungerechtigkeit und Willkür produziert, als sie Ungleichheit zu beseitigen hilft.)

 

Hinzu kommt – und das ist ein durchaus ernst zu nehmender Faktor, der erklärt, warum das gefühlte Wissen vom Elend der Kreativschaffenden sich an der Realität vorbei so hartnäckig perpetuiert –, dass die meisten Artikel und Beiträge in den Medien zum Thema von freien Journalisten stammen, die tatsächlich bei sich und in ihrem unmittelbaren Umfeld den digitalisierungsbedingten Niedergang einer gesamten Branche und die damit einher gehende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gewärtigen mussten. Dieser “Home Bias” führt zu einer systematischen Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung.

Auch wenn von Niedergang und Verelendung nicht die Rede sein kann: Unbestreitbar ist, dass die Existenzbedingungen vieler freischaffenden Künstler und Kreativen nicht so beschaffen sind, wie man sie sich in einer idealen Welt erträumen würde. Die Paradoxie dabei: Selbst wenn die Bedeutung und das wirtschaftliche Volumen der Kultur- und Kreativwirtschaft insgesamt wächst, der zu verteilende Kuchen also wächst, heißt das nicht, dass sich das auf jeden einzelnen Kultur- und Kreativschaffenden überwälzt. Ursache ist, dass es sich um einen nicht-reglementierten Markt ohne nennenswerte Zutrittsbarrieren handelt. Jeder darf sich Künstler, Schauspieler, Designer oder Musiker nennen und sich ein Schild an die Tür machen. Es ist dem Zeitgeist geschuldet, dass viele junge Menschen, die in den Arbeitsmarkt drängen, es attraktiv finden, sich in diesen Feldern auszuprobieren. Die meisten sind sich perfekt im Klaren darüber, dass sie damit eine lebenstaktische Hochrisikostrategie fahren und, dass da draußen erst einmal niemand auf sie gewartet hat.

Nur weil sich jemand per Selbstakklamation Künstler nennt, kann er oder sie nicht erwarten, von der Gesellschaft dafür alimentiert zu werden, und denjenigen, die sich dennoch darauf einlassen, ist das meist vollständig bewusst. Dennoch sind sie bereit, auf ein höheres und vermeintlich sicheres Einkommen in einer Festanstellung oder einem konventionellerem Beruf zu verzichten. Die Lücke wird geschlossen durch den Zugewinn an Autonomie und das nichtmonetäre Prestige, das sich aus kreativer Arbeit ziehen lässt. Ihr Credo lautet: besser ich beute mich selbst aus, als dass es ein anderer tut. Es gibt keinen Grund, diese Akteure vor sich selbst zu beschützen. Oft sind die selbst ernannten Beschützer selbst verbeamtete Soziologen oder quasi-verbeamtete Gewerkschafter, denen die ganze Richtung nicht passt. In einem Punkt haben sie dabei sogar nicht ganz Unrecht.

Im Hintergrund lauert nämlich ein ernst zu nehmende ökonomische Allmende-Problematik, nämlich die, dass die neu und ambitioniert in den Markt drängenden Kreativen die Preise versauen. Chris Dercon, ehemaliger Direktor am Haus der Kunst in München, mittlerweile Leiter der Tate Gallery in London, nennt das in einem Interview mit der Zeitschrift “Monopol” treffend die “Enthusiasmus-Falle”: “Man spricht von creative industries, aber das ist nur ein Trick, um das ökonomische Modell der kostenlosen Arbeit salonfähig zu machen. Man will Enthusiasten erzeugen, ihren Input nutzen, ohne Löhne zu zahlen.” Gerade die Neulinge sind so intrinsisch motiviert bei der Sache, froh überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen und aus dem Häuschen, dass überhaupt jemand ihre Leistung nachfragt, dass sie darüber vergessen, ordentliche Honorare und Tagessätze durchzusetzen. In einem atomistischen Markt, der keine künstliche Verknappung – etwa durch gewerkschaftliche Tarifierung – kennt, und in dem oft der oder die ausführende Kreative identisch mit der Person ist, die die Verhandlungen mit dem Kunden oder Auftraggeber führt. In diesem Segment braucht es eindeutig mehr “unternehmerisches Selbst”, so ein kritisch gemeintes Soziologen-Schlagwort, und vor allem: unternehmerisches Selbstbewusstsein.

Die eigentliche Kurzsichtigkeit in der Prekarisierungs-Debatte legt aber darin, dass sie stark auf Hochschulabsolventen und Berufseinsteiger fokussiert. Darin überlappt sie sich mit der Debatte um die “Generation Praktikum”, die sich ebenfalls als reine Feuilleton-Chimäre herausgestellt hat. Es gibt – zumindest in Deutschland – keine nennenswerte Arbeitslosigkeit unter jungen Akademikern und der demografische Wandel wird ein übriges tun, die letzten Reste davon zu beseitigen.

Natürlich erzielen Existenzgründer in der Kreativbranche nicht aus dem Stand das Einkommensniveau von abhängigen Beschäftigten mit vergleichbarer Qualifikation. Es braucht eine Zeit, Reputation aufzubauen und das eigene Geschäftsmodell so in den Wind zu drehen, dass es Fahrt aufnehmen kann. Es erfordert ein geschicktes Ausbalancieren von Standbein und Spielbein, oft die anfängliche Quersubventionierung durch einen Brotjob. In seinem lebensklugen Essay “How to Do what you love” beschreibt der Programmierer Paul Graham die unterschiedlichen Strategien und Stadien, die es braucht, um aus einer passionierten Neigung einen Beruf zu machen – und die Stolperstricke die dabei auftauchen können: “Selbst im Erfolgsfall ist es außerordentlich selten, dass man die volle Freiheit erlangt, bevor man in den 30ern oder 40ern ist. Aber mit dem Ziel vor Augen ist es wahrscheinlicher, dass man irgendwann dort landet.”

Der erwähnte Daniel Pink beschreibt in seiner US-Freiberufler-Bibel “Free Agent Nation”, dass die von ihm befragten Soloselbständigen berichten, dass es fünf bis zehn Jahre gedauert habe, bis sie ein gut gemischtes Portfolio an Jobs und Kunden und damit das Gefühl gehabt hätten, sicheren Grund unter den Füßen zu haben. Dann fühlten sie sich jedoch sogar sicherer als die meisten Angestellten: “Es ist nicht nur interessanter, ein Portfolio von Kunden und Projekten zu unterhalten, als für einen einzigen Boss zu arbeiten, es kann sogar mehr Sicherheit verheißen. Je mehr Kunden man gewinnt, je mehr Projekte man abgeschlossen hat, je mehr Knoten man zu seinem persönlichen Netzwerk hinzufügt, desto abgesicherter ist man. Freiheit, einmal das Gegenteil von Sicherheit, ist heute ein Weg zu mehr Absicherung.”

Für Deutschland wird dieser Befund bestätigt durch eine Anfang 2012 veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die aufräumt mit dem Klischee des erbarmungswürdigen Freelancers. Danach verdienen die 4,2 Millionen Selbständigen in Deutschland im Durchschnitt mehr als abhängig Beschäftigte – bei zugegeben größerer Streuung. Bereits nach drei Jahren lägen 38 Prozent der Gründer über dem Niveau vergleichbarer Angestellter, nur bei 17 Prozent hat sich die Situation verschlechtert. Auch der Anteil der Geringverdiener mit einem Einkommen von weniger als 1100 Euro fällt unter Selbständigen deutlich geringer aus. Vielleicht sind diese verbesserten Aussichten – und nicht allein die neoliberale Deregulierung – der Hauptgrund, warum der Anteil der Selbständigen in Deutschland in den zurückliegenden zwanzig Jahren um 40 Prozent gestiegen ist. Laut DIW entfallen 60 Prozent der Neugründungen auf den Dienstleistungssektor gegenüber nur einem Fünftel in Handel und Gastronomiegewerbe. Was man davon der Kultur- und Kreativwirtschaft zurechnet, ist – siehe oben – Definitionssache. Unbestreitbar ist allerdings, dass kreative Freiberufler und Soloselbständige das wichtigste Wachstumsfeld in dem Bereich ausmachen.

Was die Politik tun (und lassen) kann

Was heißt das nun für eine Politik, die sich die Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft auf die Agenda geschrieben hat – sei es auf Bundes, Landes oder lokaler Ebene? Bevor man über Programme und Fördermaßnahmen nachdenkt, die auf die spezifische Gegebenheiten eingehen und etwa den internationalen Marktzugang verbessern, die Akteure besser vernetzen oder leerstehende Immobilien in Zwischennutzungen überführen, gilt es, drei Grundprinzipien zu erwägen, die durchaus im Konflikt mit der gängigen Cluster- und Förderpolitik für die Kreativwirtschaft stehen können.

1.) Weniger ist mehr!

“Letztlich kann die Politik nur die Rahmenbedingungen für die digitale Bohème schaffen, und es ist schon einiges gewonnen, wenn sie einfach nichts tut, also nicht nervt”, schrieben Sascha Lobo und ich 2006 in “Wir nennen es Arbeit” über das neue Lebens- und Arbeitsgefühl der kreativen Avantgarde. Das war flapsig formuliert, trifft aber dennoch einen wahren Kern. Abgesehen davon, dass es Teil des politischen Prozesses ist, Töpfe für diejenigen als wertvoll erkannten Kulturformen zur Verfügung zu stellen, die ökonomisch unter dem Meeresspiegel liegen und sich nicht aus eigener Kraft tragen, laufen viele wohlmeinende Initiativen der Politik eher unter “gut gemeint” als gut im Sinne der Betroffenen. Kreativwettbewerbe zum Beispiel sind ein beliebtes Instrument der Politik, Aktivität unter Beweis zu stellen und sich mit dem Gewinnern öffentlichkeitswirksam zu schmücken. In Wahrheit verzerren sie aber das Anreizsystem, weil viele Akteure, die am Ende leer ausgehen Arbeit in Wettbewerbspräsentationen stecken, anstatt ihre eigentlichen Projekte zu verfolgen. Ähnliches gilt für die ausufernde Antragsprosa bei der Vergabe von Kulturfördermitteln. Der Ökonom Matthias Binswanger hat in seinem Buch “Sinnlose Wettbewerbe” diesen volkswirtschaftlichen Unsinn angeprangert. Die Konsequenz müsste lauten, auf Kreativwettbewerbe ganz zu verzichten, und die Vergabe generell niederschwelliger und geschmeidiger zu gestalten. Warum muss man bei einem Antrag für ein Theaterprojekt einen vollständig ausgearbeiteter Finanzplan einreichen, wenn in der ersten Auswahlrunde schon ein Waschzettel gereicht hätte, um zu klären, dass das Projekt keine Förderung erhält. Fragt man Kreative im Feld (und nicht am Tropf öffentlicher Förderung hängende Kulturlobbyisten), was ihnen das Leben schwer macht, jammern sie seltener über ihre prekäre Situation und fehlende Staatsknete, als über bürokratische Schikanen. Viele Freiberufler ächzen darunter, dass sie im Umgang mit Behörden von der Gewerbeaufsicht bis zum Finanzamt den selben Aufwand betreiben müssen, der schon manch mittelständisches Unternehmen an den Rand der Überförderung bringt. Die kumulative KSK-Abgabe ist ein spezifischer Misstand, der gerade arbeitsteilig in Netzwerken arbeitende Kreative besonders hart trifft. Und die Frage “7 oder 19 Prozent” Mehrwertsteuer hat schon manchem das ökonomische Genick gebrochen. An diesen Punkten einmal die Perspektive zu wechseln, Entlastung aus Sicht der Betroffenen zu schaffen, und die “Usability” der Staatlichen-Infrastruktur zu erhöhen, wäre eine erste Pflichtaufgabe, bevor man über die Kür nachdenkt.

2.) Keine Extrawrst für Kreative!

Die Grenze verläuft nicht zwischen kreativ und nicht kreativ, sondern zwischen Groß- und mittelständischen Unternehmen auf der einen, Micro-Businesses und Soloselbständigen auf der anderen Seite. Die Kultur- und Kreativwirtschaft franst durch digitale Technologien, neue Berufsfelder und einen erweiterten Designbegriff derart an den Rändern aus, dass jede Politik, die bei der Eingrenzung der Adressaten auf ihrer Definition beharrt, notwendigerweise hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Dass freie Journalisten und Autoren in den Genuss der KSK-Absicherungen kommen, während große Teile des akademischen Mittelbaus, die heute üblicherweise mit Werkverträgen und kleinen Lehraufträgen abgespeist werden, nackt im Hemd dastehen, zeigt, wie durch Klientelpolitik neue Ungerechtigkeiten entstehen. Nur weil sich selbst jemand als Künstler definiert, ist damit nicht gesagt, dass er einen wertvolleren gesellschaftlichen Beitrag leistet, als ein selbständiger Paartherapeut oder die Betreiberin eines Cupcake-Ladens. Umgekehrt kann die Kreativwirtschaft nur gedeihen, wo es eine gute Support-Infrastruktur von Copy-Shops, Computer-Spezialisten, Schreiner, Cafés etc. gibt. Eine Standortpolitik, die ein gutes Klima für eine kleinteilige und möglichst diverse Wirtschaft schafft, die vom traditionellen Handwerk bis zur IT-Bude reicht, wird immer auch eine gute Politik für die Kultur- und Kreativwirtschaft sein.

3.) Nicht Existenzgründung fördern, sondern Existenzen!

Entgegen anderslautenden Gerüchten ist die erste Phase der Selbständigkeit relativ unkritisch. Gründungen im Kreativsektor erfordern meist wenig Kapital, man hat ein paar Rücklagen gebildet, und testet sich aus, ohne große unternehmerische Risiken einzugehen. Im Nichtschwimmerbecken kann man nur schwer ertrinken. Die echten Probleme stellen sich nach drei bis fünf Jahren, wenn ein funktionierendes Geschäfsmodell gefunden ist, man sich am Markt etabliert hat und nun vor der ersten Wachstumsschwelle steht. Das heißt: Partner finden oder Mitarbeiter einstellen, eine geeignete Rechtsform finden, investieren, den Cash Flow managen. Hier wird auch die Volatilität der Einkommensströme erstmals zum Problem: ein sehr gutes Geschäftsjahr kann aufgrund des Schweinezyklus der Einkommenssteuer ein größeres Risiko bergen, als ein unterdurchschnittliches. Hier ist Professionalisierung angesagt – und eine sachkundige Beratung angezeigt, die die Spezifika des kulturökonomischen Feldes kennt. Kreative schreiben keine Busniesspläne. Selbst die neue Generation von Start-ups schreibt keine Business-Pläne mehr, sondern testet im “permanent Beta”- Modus so lange Prototypen, bis ein marktfähiges Produkt herauskommt. Kreativförderung nach dem Vorbild der IHK-Existenzgründerprogramme zielt deshalb komplett an der Zielgruppe vorbei. Kulturschaffende zu Unternehmern machen! – Diese Botschaft ist bei den Kreativen längst angekommen, die sich als “social entrepreneurs” oder “Culturepreneurs” begreifen. Jetzt ist es an der Politik, die Schnittstellen nachzurüsten zwischen einem System der öffentlichen Kulturförderung, das nach eigenen Regeln, Gesetzen und Mehrwertsteuersätzen funktioniert, und dem freien Markt. Denn in dieser Grauzone, wo sich Pioniere als Wandler und Botschafter zwischen den Welten positionieren, knirscht es noch gewaltig.

Die hier skizzierte junge Fraktion von Akteuren in der Kultur- und Kreativwirtschaft braucht die Politik nicht und hat die Rechnung ohne sie gemacht. Aber Politik kann sich entscheiden, ob sie Teil der mannigfaltigen Problemlage ist, der sich Kulturunternehmer heute gegenübersehen, oder ob sie Lösungen anbietet, indem sie Unterstützung auf Augenhöhe leistet – und damit zum Verbündeten einer breiten Aufbruchsbewegung wird, die ohnehin stattfindet, weil die Vektoren des technologischen, ökonomischen, kulturellen  und gesellschaftlichen Fortschritt in ihre Richtung weisen.

Literatur:

Chris Anderson: Makers. The New Industrial Revolution. 2012

Matthias Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. 2010.

Chris Dercon: „Das Künstlerprekariat sitzt in der Falle“ (Interview), Monopol, 19.07.2010

Richard Florida: The Rise of the Creative Class. 2002

Holm Friebe und Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. 2006

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. 1969

John Howkins: The Creative Economy. How People Make Money From Ideas. 2002

John Howkins: Creative Ecologies. Where Thinking is a proper Job, 2010

Daniel Pink: Free Agent Nation. The Future of Eorking for Yourself. 2002

Daniel Pink: Dive. The Surprising Truth About What Motivates Us. 2009

Frederic J. Schwarz: The Werkbund: Design Theory and Mass Culture before the First World War. 1999.

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