Menschen am Sonntag

Von Holm Friebe, erschienen am 23.04.2002 in der Berliner Zeitung.

 

Das Leben verändert sich, wenn man um die 30 ist. Die Leute um einen herum ergreifen ernsthafte Berufe in der Medienbranche oder so ähnlich und verdienen auf einmal richtiges Geld. Sie ziehen zusammen, kriegen Kinder oder heiraten sogar. Sie kaufen qualitativ hochwertige Möbel, die sie in ihren Altbauwohnungen geschmackvoll drapieren. Prinzipiell lässt sich dagegen nichts sagen. Das ist wohl der Lauf der Dinge. Was sich aber synchron verändert, ist das Partyverhalten. Beziehungsweise: Von Partyverhalten kann keine Rede mehr sein, weil die Leute einfach keine amtlichen Partys mehr veranstalten. Die sind ihnen jetzt ein Gräuel. Zu Partys kommen immer so viele Leute, die man gar nicht eingeladen hat und die dann Löcher in die Holzfußböden brennen und Bier über die teuren Möbel kippen. Überhaupt: Bier! Das Hauptnahrungsmittel ihrer Studienzeit ist ihnen auf einmal zu proletarisch und macht bei Männern diese hässlichen Ringe um die Hüften, weshalb sie nicht mehr in ihre 32er-Jeans passen. Überhaupt: Jeans! Man trägt jetzt lieber Anzüge und trinkt Prosecco. Man gibt keine Partys mehr, sondern veranstaltet einen Brunch. Nicht im Café, sondern in der eigenen Wohnung, die bei Tageslicht ohnehin viel besser zur Geltung kommt. Nicht mit Bier und in Jeans, sondern mit Prosecco und im Anzug. Der Brunch – in seiner ursprünglich angloamerikanischen Bedeutung ein Amalgam aus Breakfast und Lunch – findet meist am Sonntag statt. Wo Bewohner der Provinz in die Kirche und danach zum Frühschoppen pilgern, gehen die Insassen der Berliner Republik zum Brunch. Dieser beginnt – hauptstädtisch zeitversetzt – gegen Mittag. Da hat der Gastgeber bzw. das Gastgeberpaar bereits ein üppiges Büfett aufgefahren, auf dem keineswegs Guacamole sowie Tomaten mit Mozzarella und Basilikum fehlen dürfen. Der einzige Grund, um diese frühe Uhrzeit zu einem Brunch zu erscheinen, ist, dass man in der Nacht zuvor aus war, mit Heißhunger aufwacht und natürlich wieder vergessen hat, fürs Wochenende einzukaufen. Aufgeräumt und sehr kommunikativ empfangen einen die Gastgeber. Dabei möchte man doch eigentlich nur in Ruhe etwas frühstücken. Und man fand seit jeher Menschen suspekt, die vor dem frühen Abend kommunikativ sein können. Sich hinter der Sonntagszeitung zu vergraben gilt im Zuge eines Brunchs aber gemeinhin als unhöflich. So muss man sich denn mit den Gastgebern unterhalten, zumindest bis die nächsten Gäste eintrudeln. Dies geschieht nach und nach. Zum Teil bringen sie ihre Kinder mit, die den Lärmpegel drastisch erhöhen. Der Wochenendblues und die tiefe Sinnkrise, in die Berufstätige allsonntaglich stürzen, lassen sich vermindern, indem man beides kollektiviert – so das unausgesprochen hinterlegte Konzept des Brunchs. Tatsächlich möchte man sich, nachdem das Loch im Magen der pappsatten Übelkeit gewichen ist, am liebsten der Länge nach auf die abgezogenen Dielen strecken oder sich vom Südbalkon stürzen. Beides gilt während eines Brunchs jedoch als unschicklich. Und der Griff zum Prosecco hilft, Hospitalismus gegenüber anderen Teilnehmern abzubauen: blasse überarbeitete Menschen, bei denen Burn-out-Syndrom, metaphysische Müdigkeit und der Kater vom Vorabend zusammentreffen. Man selbst bildet da keine Ausnahme. Zu ernsthaften Gesprächen ist keiner der Anwesenden in der Lage. Aber erste flaue Witze zum Tagesgeschehen gehen schon wieder. Zur Not kann man sich mit den Kindern beschäftigen, die nichts von der abgrundtiefen Sinnlosigkeit ahnen, die hinter der zähen Heiterkeit lauert. Gegen vier Uhr nachmittags bröckelt (wenn die Rechnung der Gastgeber aufgeht und das Ganze nicht doch in eine Party ausartet) der Brunch langsam ab. Leute müssen noch “an den Schreibtisch” oder mit den Kindern da- und dorthin – “wir haben es ihnen versprochen”. Das Büfett ist maximal zu einem Drittel dezimiert, es wirkt aber ordentlich gefleddert. Auch die Wohnung sieht schlimm aus, aber nicht so schlimm wie nach einer Party. Sobald eine kritische Masse an Gästen gegangen ist, schlägt die allgemeine Lethargie in die Panik um, nicht der Letzte zu sein. Fluchtartige Absetzbewegungen sind die Folge. Man tritt auf die Straße und der Tag ist im Eimer. Die metaphysische Verzweiflung weicht der ganz konkreten, etwas mit dem angebrochenen Tag anfangen zu müssen. Zum Glück ist morgen Montag und die Woche fängt an.

 

In der Berliner Zeitung.

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