Weil ich es kann

Dave Eggers’ “Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität” ist ein umwerfendes Werk von herzzerreißender Genialität. Von Holm Friebe, erschienen am 10.10.2001 in Jungle World.

 

Der purpurne Vorhang auf dem Buchumschlag erinnert ein wenig an den in Charles Willson Peals berühmtem Selbstporträt “The Artist in His Museum” von 1822. Bei Peal gibt der noch halb ins Bild hängende Stoff mit schwerem Faltenwurf den Blick frei auf ein merkwürdiges Bestiarium voller naturhistorischer Merkwürdigkeiten. Auf Dave Eggers’ selbst gestaltetem Cover zu “Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität” ist es ein überirdisch schöner Sonnenuntergang. Tatsächlich ist das Buch eine Art Privatmuseum mit persönlichen Gegenständen, Fundstücken und Erinnerungen, in dem der Künstler ein absolutes Regiment führt und nach radikal subjektiven Kriterien beschließt, was hineingehört und was nicht. Auch beansprucht der Debütant Eggers von vornherein – angefangen bei dem Titel – die absolute Deutungshoheit über sein kleines Reich, in das er uns freundlicherweise Einblick gewährt.

 

Zunächst aber bleibt der Vorhang fast vollständig geschlossen, nur ein Blick durch den Spalt lässt erahnen, was sich dahinter tut. Davor steht Eggers und gibt eine 50 Seiten lange Einführung, ein hoch umständliches, lexikografisch gegliedertes Vorwort. Darin antizipiert er sämtliche denkbaren Winkelzüge der Interpretation, nimmt Wind aus Segeln, bläst vollmundig in andere hinein und installiert einen uneingeschränkt glaubwürdigen Ich-Erzähler, indem er ihn zunächst einmal komplett demontiert: “Unabhängig von den lautstarken Behauptungen des Autors an anderer Stelle handelt es sich bei diesem Buch keineswegs um rein Autobiografisches.” Die einzelnen Subjektbestandteile des auktorialen Ichs gehen prophylaktisch auf Distanz zueinander, und am Ende will es wieder keiner gewesen sein: “Während der Autor, indem er so selbstbezogen ist, sich selbst hinterfragt, weiß er doch andererseits um die selbsthinterfragende Selbstbezogenheit dieses Buches.”

 

Der Autor als Entwaffnungskünstler; allein das Vorwort ein entwaffnendes Werk von unüberschaubarer Unangreifbarkeit: “Zudem ist er sich vollkommen im Klaren darüber, und euch darin um Längen voraus, was das Wissen und die Einsicht in die Effekthascherei betrifft, die in dem ganzen steckt, und möchte Eurem Einwand, das Buch sei wegen besagter Effekthascherei völlig irrelevant, unverzüglich zuvorkommen, indem er die Effekthascherei zu einem Instrument, zu einer Schutzmaßname erklärt.” Effekthascherei natürlich auch dies – aber auf charmante Weise gegen jegliche Kritik imprägniert. Und was für eine ebenso charmante Dreistigkeit, eine aus Gründen der Verknappung aus dem eigentlichen Textkorpus herausgekürzte Stelle in voller Länge über das Vorwort wieder einzuschmuggeln!

 

Nachdem er den Leser im sophistischen Vexierspiel vollends umgarnt und eingenommen hat, zieht Eggers den Vorhang ganz auf und gibt den Blick auf seine Wunderkammer frei: Ein Mikrokosmos der tragischen Geschichten des Scheiterns und des Ablebens, irisierend überdreht ins Sozialromantische.

 

Die Eckpfeiler der Geschichte sind autobiografisch: Im Abstand von nur wenigen Tagen sterben beide Eggers-Eltern an Krebs. Dave ist zu dieser Zeit 22, sein Bruder Toph, kurz für Christoph, acht. Die Geschwisterkonstellation bildet das Rückgrat der Geschichte. Wie der Autor nach dem Tod der Eltern für den kleinen Bruder die Vaterrolle übernimmt und was das mit beiden anstellt. Die Sorge des Autors, durch ein Generation-X-Lebensgefühl für die Erziehung gänzlich ungeeignet zu sein, kippt regelmäßig in panische Schuldgefühle, eine paranoide Sorge um den kleinen Bruder und die nachvollziehbare Angst vor Verwahrlosung, Polizei und Jugendamt. Überforderung gibt es selbst mit den kleinen Dingen des Alltags: “Wir haben ein Ameisenproblem. Wir haben ein Ameisenproblem, weil wir noch nicht den Unterschied zwischen Papierabfällen und Essensabfällen begriffen haben.” Dazwischen immer wieder magische Momente einer neuen Sozialität abseits aller gesellschaftlichen Normen, Ausbruchsphantasien, Rock’n'Roll, immer bedroht vom alltäglichen Wahnsinn.

 

Eine Lieblingsstelle des Buchs geht so: “Eine Zeit lang rannten wir mit Wasser im Mund durch das ganze Haus hintereinander her und drohten, den anderen anzuspucken. Natürlich wäre nie einer von uns ernsthaft auf den Gedanken gekommen, den anderen im Haus mit Wasser zu bespucken, bis ich eines Abends, als ich ihn in der Küche zu fassen bekam, es einfach tat und ihn anspuckte. Seitdem sind die Dinge ziemlich außer Kontrolle geraten.”

 

Ein Lebensgefühl von unkalkulierter Grenzüberschreitung ist gewöhnlich der Stoff, aus dem so genannte Kultbücher gemacht sind. Es gibt andere Stellen von gleichem Kaliber: “Unser Auto brummt lärmend, sodass ich das Radio lauter stelle, weil ich es kann.” Allein in diesem letzten kleinen Halbsatz steckt der gesamte utopische Kern des Buches. Oder: “Wir beide powern durch den Sommer, weil man uns etwas schuldet.”

 

Tatsächlich hat Eggers das Zeug zum Sprecher einer, seiner Generation. Das wird nicht nur daran deutlich, das er ein Fanzine, das Sprachrohr des Twentysomethings, mit dem Titel “Might” auflegt (das natürlich den Bach runter geht) und sich bei MTV für die Big-Brother-Vorläufershow “The Real Life” bewirbt (Das Auswahlinterview, welches so sicher nicht stattgefunden hat, bildet den Mittelteil des Buches), sondern auch an einzelnen sehr expliziten Dialogen, wie etwa dem folgenden, der als Aktualisierung von Couplands “Generation X” gelesen werden könnte:

 

“Wir müssen glücklich sein.”

 

“Nicht glücklich zu sein, wäre schwierig.”

 

“Wir müssen uns anstrengen, nicht glücklich zu sein.”

 

(…)

 

“Ein Luxus, was Ort und Zeit betrifft.”

 

“Etwas Seltenes und Wunderbares.”

 

“Historisch praktisch noch nie da gewesen.”

 

Nicht zuletzt durch die authentischen Generationenbekenntnisse eines chronisch Erfolglosen ist Eggers Buch ein solcher Erfolg geworden. Vergleiche wurden herangezogen mit J.D. Salinger und mit Frank McCourt (dies wohl wegen einer allzu Hollywood-kompatiblen Szene am Schluss, in der buchstäblich “Die Asche meiner Mutter” ins Spiel kommt). Die Referenz auf Douglas Coupland gehört vollständigkeitshalber in diese Auflistung.

 

Am ehesten hat Eggers Buch aber etwas gemein mit den tragikomischen Geschichten von David Sedaris, in denen sich ebenfalls die neurotische und wenig erstrebenswerte Hässlichkeit des amerikanischen »White Trash« zu etwas schaurig Schönem verklärt. Dass der Autor bei MTV-»The Real Life« abgelehnt wurde, erscheint im Kontext des Buches unausweichlich. Denn seine Geschichte klingt einfach zu echt.


Dave Eggers: Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität. Eine wahre Geschichte. Droemer Knaur, München 2001, 476 S., DM 44,79

In Jungle World.

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