Wo der Gletscher kalbt

Jeff Koons macht empfänglich für überschießende und unpassende Gefühle. Von Holm Friebe, erschienen am 15.11.2000 in Jungle World.

Der unbestreitbar beste Schokoriegel der Welt ist definitiv “Cookies & Cream” von Hershey’s. Ich erinnere mich gut, wie ich ihn das erste Mal in einem New Yorker Deli kaufte und reinbiss. Ich dachte, wow, wenn der Kapitalismus in der Lage ist, so großartige Dinge wie diesen Schokoriegel hervorzubringen, dann kann er nicht ganz schlecht sein. Dachte ich, und denke es eigentlich immer noch.

Dass Jeff Koons in der Nähe eines Ortes namens Hershey geboren wurde, ist sicher Zufall. Aber seine neuen Bilder des Zyklus “Easyfun – Ethereal”, die derzeit das Deutsche Guggenheim Berlin zeigt, haben denselben Effekt wie Hershey’s “Cookies & Cream”. Und das nicht nur, weil cremig schwappende Sahne- und Schokosubstanzen ein bedeutendes Gestaltungselement sind und reihenweise Doughnuts umherfliegen. Sie flashen. Das ist ihre Hauptaufgabe, der sie mit Sorgfalt und Akribie nachkommen. Das macht sie den Schokoriegeln vergleichbar.

Wenn mich meine Enkel eines Tages fragen sollten, wie denn der Spätkapitalismus aussah, weil sie diese Epoche gerade in Geschichte durchnehmen, werde ich ohne lange Überlegungen den Ikea-blau-gelben Katalogband zur Ausstellung aus dem Regal ziehen und ihnen die sieben Bildtafeln zur Ansicht reichen. Während sie versonnen in das Bildermeer eintauchen, werde ich erläutern, dass es eine schlimme Zeit war, damals, als die Werbung den Zenit ihrer Macht erklomm und zur hegemonialen Ästhetik wurde. Aber es war auch nicht alles schlecht, werde ich fairerweise hinzufügen, immerhin gab es ganz prima Schokoriegel.

Spätkapitalismus – Rolf E. Breuer vom Vorstand der Deutschen Bank, die die Ausstellung bezahlt hat, verwendet den Begriff in seinem Grußwort zum Katalog nicht, auch wenn er darauf hinweist, dass “gerade in der Parallelität zur Welt der Werbung und Medien die Aktualität und zugleich Herausforderung der Bilder von Jeff Koons begründet” ist. Rolf E. Breuer würde sich wohl eher die Zunge abbeißen, als das Wort Spätkapitalismus in den Mund zu nehmen. Anders Thomas Krens, Direktor der Solomon R. Guggenheim Foundation, der in seinem Katalogtext schreibt: “Jeff Koons hat seit Ende der siebziger Jahre ein bemerkenswertes ‘uvre geschaffen, das sich pointiert mit der Kultur des Spätkapitalismus auseinander setzt.” Zwischen diesen unterschiedlichen Formen der Deutung bewegt sich die Kunst von Jeff Koons, hier schlummert ihr diskursives Potenzial. Eine Kunst, die auf der phänomenologischen Ebene aalglatt und oberflächlich erscheint.

Dazu kommt, dass der Künstler Koons selbst eine Kitsch-Ikone ist, die durch Talkshows und seine eigenen Skulpturen geistert. Einen Vortrag in Hamburg zum Thema “Kunst heute” etwa nutzte er kurzerhand dazu, dass Pfeffersack-Publikum im lange schwelenden und öffentlich ausgetragenen Streit mit Ex-Frau und Pornoqueen Ciccolina um das Sorgerecht des gemeinsamen Kindes auf seine Seite zu ziehen. Zugleich ist er – wie sein Idol Andy Warhol – ein Künstler, der konsequent fordistische und postfordistische Produktionsweisen auf die eigene Kunstproduktion anwendet. In seinem riesigen New Yorker Atelier ist ein ganzer Stab von Angestellten mit der Produktion und Vermarktung der Bilder und Objekte befasst. Das Ganze erinnert nicht von ungefähr an Warhols Factory. Koons gibt den Start-up-Unternemer, der seine master idea einspeist und nur noch die Abläufe überwacht.

Die Bilder – sieben breitformatige Wandtafeln mit Titeln wie “Sandwiches” oder “Hair with Cheese” – bezeugen die Perfektion industriell gefertigter Massenprodukte. Ihr Format, 3 Meter mal 4,3 Meter, enspricht exakt dem der Billboard-Werbetafeln. Künstlerisch sind sie eine Fortschreibung der Pop-Art, und sie versuchen gar nicht erst, das zu bemänteln. Abziehbilder der Konsumkultur werden in Öl zu fotorealistischen Collagen montiert. Wo bei James Rosenquist in den Sechzigern gebratene Bacon-Streifen durchs All flogen, sind es bei Koons Wurstscheiben mit Gesicht. Koons hat die Herstellung dieser Tableaus perfektioniert und dem digitalen Zeitalter angepasst. Er montiert die Motive erst am Computer, bevor er sie in Öl malen lässt.

Die Bilder verfügen über den eingefrorenen Flow, den auf Platte zu bannen sonst nur der Werbefotografie angemessen gelingt: der Moment, in dem die Milch in die Cornflakes schwappt bzw. “da wo der Gletscher kalbt und die Sekunden ins blaue Meer fließen …” (Meinhard Jungblut). Ein solcher ästhetischer Milchkegel bildet etwa den Hintergrund von “Sandwiches”. In anderen Bildern lässt Koons die Natur den eingefrorenen Bewegungsfluss der Werbefotografie nachahmen: Stalakmiten und Stalaktiten in “Grotto”, die Niagarafälle in “Niagara”.

Auf der gefrorenen Welle treiben im Vordergrund die Fetische des Spätkapitalismus: geschminkte Lippen, gepflegte Frauenfüße oder Sandwiches mit Gesichtern. Koons’ Motive sind latent sexuell und polymorph pervers und lösen beim Betrachter widersprüchliche Gefühle aus. Eins davon ist Mitleid mit dem geschundenen Werbemotiv, dessen einziger Daseinszweck es ist, Affekte beim Betrachter auszulösen. Genau wie wir bei den genetisch manipulierten Kinderklonen der Chapman-Brüder Mitleid empfinden, dauern uns die Sandwichgesichter oder die erbärmlichen Teletubbie-Figuren mit Doughnutmündern aus »Blue Poles«. Im Grunde sind Koons’ Bilder nicht kitschig – aber sie bedienen eine originäre Funktion von Kunst, die heute eher zu kurz kommt. Sie machen uns empfänglich für überschießende und unpassende Sentiments.

Ganz en passant zitieren Koons’ Bilder elegant die Kunstgeschichte. Der ausgeschnittene Mund im Himmel aus »Lips« erinnert an René Magritte, das Achterbahn-Gestänge aus »Blue Poles« greift auf den Konstruktivismus zurück. Das ist nichts Besonderes, Werbung arbeitet nicht anders. Der Twist entsteht, indem man es als reentry der Kunstgeschichte in die Kunst über den Umweg der Konsumkultur liest. Man kann es aber auch bleiben lassen und einfach mitschwimmen im Strom der Bilder und seine schönsten Erlebnisse mit Schokoriegeln Revue passieren lassen.

Jeff Koons: »Easyfun – Ethereal«. Deutsches Guggenheim Berlin, Unter den Linden 13-15.
Bis 14. Januar

In Jungle World.

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