Ypsilon in Angst

Von Holm Friebe, erschienen am 24.07.2001 in der Berliner Zeitung.

 

Heute vor einer Woche stand an dieser Stelle ein Text von einem gewissen Christian Y. Schmidt, der eine Person namens Holm des “Wohnings” bezichtigte, was auch immer das sein mag. Wenn man diesen Namen trägt, darf man sich getrost gemeint fühlen. Zumal einige Begebenheiten im Text – trotz des geschlossenen Wahnsystems, in das er Einblick gewährt – sich als real erlebte dechiffrieren ließen und ich besagten Autor schon kannte, als er nur Christian Schmidt hieß und noch in Frankfurt/Main lebte. Das Zwischeninitial hat er sich nach seinem Berlin-Umzug auf Anraten des ebenfalls an dieser Stelle tätigen Martin Z. Schröder zugelegt, um nicht ständig mit bayerischen Landtagsabgeordneten verwechselt zu werden und beim Googeln im Internet in einem Meer aus Christian Schmidts zu versinken. Seither googelt sich Schmidt, oder Ypsilon, wie wir ihn mittlerweile nennen, mehrmals täglich selbst und ist jedes Mal neu erfreut, auf einen seine Person betreffenden Eintrag zu stoßen. Dann erzählt er abends am Kneipentisch, dass sein Buch bei Amazon wieder einen Verkaufsrang emporgeklettert sei. Und davon, dass wir alle nach der Revolution an die Wand gestellt würden. “Premderengdengdeng”, äfft das sein Neffe Benjamin nach. Dabei ist Schmidt nicht wirklich linksradikal. “Vorausschauenden Opportunismus” nennt er das – für den Fall, dass es demnächst in Deutschland “richtig abgeht”. Davon scheint er felsenfest überzeugt zu sein. Regelmäßig einmal im Jahr, zum ersten Mai hin, nennen wir Schmidt deshalb auch Generalfeldmarschall Schmidt oder “Brainbug”, wie den unterirdischen Zentralgehirnkäfer aus dem Film “Starship Troopers”. Schon Wochen vorher nämlich vollzieht sich ein Persönlichkeitswandel vom harmlosen Grantler zum linken Strategen. Dann brütet Ypsilon über dem Stadtplan von Kreuzberg, erwägt Schlachtordnungen und taktische Manöver, stellt Einsatzpläne und Marschbefehle aus. Am Stichtag verschanzt er sich in einem strategisch günstig gelegenen Café, lässt sich über Handy die neusten Frontberichte durchgeben und premderengdengdengt Dinge wie: “Klar, die Bullen wollen die Demo hier langschicken, damit sie hinten am Platz einen Kessel machen können und alle einkassieren.” Dabei hämmert er mit dem Zeigefinger so heftig auf den Stadtplan, dass ihm sein Monokel aus dem Auge fällt. “Jaa, Ypsilon” sagen wir dann in beschwichtigendem Tonfall, und denken, dass das damit zusammenhängen muss, dass Schmidt nie eine bewegte Jugend gehabt hat, nicht wie unser Außenminister einfach mal einem Polizisten einen vor den Latz gehauen hat und überhaupt gern wäre wie Joschka Fischer. Deshalb hat er ja auch ein Buch über Fischer geschrieben. Aber wir schweifen ab. Die Ypsilon’sche Glosse war zweifellos kurzweilig, prägnant und enthielt alle Elemente, von denen man sagen möchte, sie machen im Verständnis bestimmter Bezugsgruppen einen gelungenen Artikel aus – und dennoch schien sie von etwas durchzogen, das Sartre gern als das “Nichts” bezeichnete. Man fühlt sich lebhaft an die Tagebücher erinnert, die von am Pol verirrten und dem Verderben anheim gegebenen Forschern zurückgelassen werden. Woran liegt das? Vielleicht daran, dass Ypsilon in permanentem Verfolgungswahn lebt. Ebenso, wie er an die bevorstehende Revolution glaubt, glaubt er daran, dass man ihm nach dem Leben trachtet. Angefangen hat alles vor drei Jahren, als ihm jemand an seinem neuen Arbeitsplatz eine Falle stellte. In einem schummrigen Treppenaufgang war ein schwarzer Teppich ausgelegt, der sich beim Drauftreten heimtückisch als drei Meter tiefes Loch entpuppte. Seither, genauer: seitdem Ypsilon wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ist er vorsichtig geworden. Er trägt ständig – auch nachts – eine unglaublich dunkle Maulwurfsbrille, wohl in der irrigen Annahme, wenn er einen nicht sehen kann, könne man ihn auch nicht sehen. Er verlässt die Wohnung, die im Übrigen eingerichtet ist, wie das Jugendzimmer “Texas” aus dem Möbel-Horzon-Katalog, nur noch selten. Allein, es hilft nichts. Erst vergangene Woche wieder hatte es jemand auf ihn abgesehen und die linke Pedalkurbel an seinem Fahrrad angesägt. Sie fiel auf offener Straße ab, und Generalfeldmarschall Schmidt wäre beinahe unters Auto gekommen. Wer das war, ist unklar, aber schlichte Materialermüdung scheint ausgeschlossen. Könnte sein, dass Joschka Fischer dahinter steckt. Aber nach der Revolution wird sich das alles aufklären lassen.

 

In der Berliner Zeitung.

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