Der Traum von Siena

Schrumpfende Städte, die Schrecken des Vorortes und der Sexfaktor Berlins – ein Gespräch mit Francesca Ferguson und Philipp Oswalt. Von Holm Friebe und Jörn Morisse, erschienen am 7. Januar 2006 in der Berliner Zeitung.

Die Anziehungskraft der Städte scheint ungebrochen. Schon bald wird über die Hälfte der Menschheit in Städten leben, und immer neue Megacities entstehen.

PHILIPP OSWALT: Zugleich gibt es weltweit schrumpfende Städte. Ein besonders krasses Beispiel ist Ostdeutschland, wo wir inzwischen 1,3 Millionen leerstehende Wohnungen haben. Die Bevölkerung dort wird sich voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten halbieren.

Ist das ein neues Phänomen?

OSWALT: Keineswegs. Der Bevölkerungsverlust in Großstädten tauchte erstmals in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts auf. Damals hielt man das für ein Ausnahmephänomen, heute ist es zu einem Normalfall der Stadtentwicklung geworden. Wir haben untersucht, welche Städte mit über 100 000 Einwohnern in den letzten Jahrzehnten geschrumpft sind und mussten feststellen, dass ihr Anteil stetig zunimmt.

Die historisch einmalige Wachstumsepoche der letzten 200 Jahre, in der wir uns daran gewöhnt haben, dass die Städte, die Wirtschaft, der Wohlstand und die Bevölkerung fast kontinuierlich wachsen, ist allmählich zu einem Ende gekommen. Die Frage ist: Was kommt danach?

OSWALT: Jedenfalls nicht die große Epoche der Schrumpfung. Man geht davon aus, dass die Weltbevölkerung sich in einigen Jahrzehnten bei etwa 8,5 Milliarden Menschen stabilisiert. Und natürlich gibt es nach wie vor viele Länder, die noch rapide Urbanisierungsprozesse mit extremen Stadtwachstumsraten durchmachen. Aber gleichzeitig haben wir es nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Osteuropa, in Asien, in Nordamerika sowieso seit längerem, selbst in Afrika, mit Schrumpfungsprozessen zu tun. Man findet sie sogar in China. Das ist eine Gleichzeitigkeit, die sich schon in kleinem Maßstab abspielt. Selbst in Ostdeutschland finden wir Orte wie Leipzig oder Weimar, die sich inzwischen stabilisiert haben und gerade in der Peripherie wachsen, während unweit davon der totale Niedergang stattfindet: Weißenfels, Bitterfeld, Wolfen oder auch bestimmte Stadtteile von Leipzig. Die Innenstadt blüht, aber der Leipziger Osten wird mittelfristig keine Chance haben.

FRANCESCA FERGUSON: Wenn man nur auf die harten Fakten schaut, vergisst man schnell, dass Ausdünnung und Schrumpfung der Städte durchaus auch eine psychologische Komponente haben: Was wird mit einer Stadt assoziiert? Wie identifiziere ich mich mit einer Stadt? Mit der Vorstadt? Mit der Zersiedlung? Dass Menschen von einem Ort weggehen, hat nicht nur wirtschaftliche Gründe, es hat auch viel mit Psychologie zu tun. Die heutige Großstadt ist als Pendlerstadt angelegt, wo Wohnen, Arbeiten und Freizeit getrennt sind. Deshalb sind die Stadtränder zu reinen Wohnvierteln verkommen.

OSWALT: Das stimmt so nicht ganz. Das reine Wohnen in der Vorstadt ist ein Phänomen der Nachkriegszeit. Spätestens in den 60er Jahren findet eine starke Durchmischung statt. In der Rhein-Main-Region etwa laufen Einkaufen, Arbeiten, Freizeit, Wohnen wild durcheinander. Die Pendlerbewegungen gehen längst nicht mehr nur vom Stadtrand Richtung Innenstadt, sondern auch quer zwischen den Vororten oder vom Stadtkern nach außen.

Das gibt es alles schon längst… …allerdings ohne systematische Planung.

OSWALT: Die Gemeinden, die Bürgermeister sehen sich immer noch in der Tradition des kleinen vorstädtischen Dorfs, kassieren Steuereinnahmen und weisen ein paar Neubaugebiete aus. Die Investoren denken nicht in städtischen Dimensionen und Kriterien. Das ist problematisch. Denn eigentlich ist diese Form von “Zwischenstadt” längst die eigentliche Stadt. Der Ort, wo man lebt, wo man arbeitet, zu großen Teilen seine Freizeit verbringt. Man muss sich nur mal die Lebensstile angucken, das Verhalten der Menschen. Vielleicht geht man mal zum Theaterbesuch in die Innenstadt, aber sonst findet Einkaufen, Freizeit, Freunde besuchen ja längst in diesen Zwischenräumen statt.

Was müsste sich ändern?

OSWALT: Man müsste eigentlich diese Vorstädte als Stadt mit all ihren öffentlichen Funktionen anlegen. Warum ist das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main und nicht in Eschborn? Es ist völlig absurd, dass öffentliche Räume in der Innenstadt zentralisiert werden, während die Stadt längst ganz woanders stattfindet. Da haben wir wirklich Denkblockaden. Schauen wir uns Berlin in den 1920ern an: Berlin war damals ein Agglomerat aus dreißig Kommunen, und man hat es geschafft, daraus Groß-Berlin zu bilden. Schöneberg, Charlottenburg, Neukölln, Alt-Berlin waren vorher alle eigenständig. Es war ein progressiver Akt, den gesamten Raum zu denken. Und wie ist es heute? Den Stadtplanern geht es um die Kernstadt, alles andere interessiert sie nicht. Aber das eigentliche Baugeschehen findet, ohne sie, im Berliner Umland statt. Hunderttausende Gebäude entstehen so. Langweilige Mittelstandssiedlungen, mit denen sich kein Architekt ernsthaft befasst.

FERGUSON: Das ist genau die Diskussion, die ich mit der Ausstellung “Deutschlandschaft” anstoßen will. Ich habe polemisch behauptet, gewisse Architekturen und Architekten könnten diese Vorstadtgebiete stark beeinflussen und dauerhaft verändern.

Und, können sie?

FERGUSON: Nur im Ausnahmefall. Meist setzt der vorherrschende architektonische Stil enge Grenzen. Das lässt wenig Spielraum. Innovative Architekten werden durch die strengen Bauvorschriften geradezu provoziert, polemische Akzente zu setzen. Schöne Ideen.

Wie sieht die Normalität der Vorstädte aus?

FERGUSON: Wenn man beispielsweise durch Ballungsgebiete wie Rhein-Ruhr fährt, spürt man eine gewisse Leere. Man weiß nicht, wo man sich aufhalten könnte, spürt nichts vom Zusammenleben der Menschen, von Gemeinschaft. Es gibt nur noch einen kleinen historischen Stadtkern und rundherum zersiedelte Peripherie. Das führt dazu, dass sich der Bürger in seiner eigenen Stadt als Tourist fühlt.

OSWALT: Die Leute sind schizophren. Ihr Idealbild einer Stadt ist ganz anders als der gelebte städtische Alltag. Wenn man sie fragt, werden 80, 90 Prozent von dem Siena- oder Mailand-Modell schwärmen, von der historisch gewachsenen Stadt mit mediterranem Flair. Aber ihr eigener Lebensstil vermittelt etwas ganz anderes.

Was sie als Ideal vor Augen haben und das, was sie tun, driftet total auseinander. Die Vorort-Siedlung hat ein Imageproblem?

FERGUSON: In der amerikanischen Populärkultur werden wir nur so gefüttert mit dem tristen Lifestyle der Vorstadt, oft auch ihrem Schrecken. Meist wird die Vorstadt mit Leere und Bedrohlichkeit identifiziert. Insofern ist sie sehr negativ besetzt. Auch wenn man sich die kulturelle Repräsentation dieser Orte bei uns anschaut, etwa in den Fotografien der Düsseldorfer Schule, gibt es eine unterkühlte distanzierte, eigentlich melancholische Haltung zu allem, was sich irgendwie außerhalb des Stadtkerns befindet. Das färbt natürlich auf die Menschen ab.

OSWALT: Da drängt sich die Frage auf, was wird aus diesen Einfamilienhauswüsten in 20, 30 Jahren? Es ist ja ein großer Unterschied, ob ich stolzer Erbauer eines Hauses bin, ob ich es kaufe oder von den Eltern erbe. Was passiert mit all diesen Häusern? In den USA, wo die Suburbanisierung schneller und stärker vorangeschritten ist als bei uns, schrumpft heute ein Drittel der Vorstädte. Gerade die älteren Stadtteile, die Nachkriegsviertel der späten 40er und 50er Jahre, leiden unter enormem Bevölkerungsverlust. Kann man das verallgemeinern? OSWALT: Nicht unbedingt, denn nicht alle Vorstädte werden in den nächsten Jahrzehnten wieder schrumpfen. Aber wir müssen uns mit dem Bild leerstehender Einfamilienhaussiedlungen vertraut machen, während sich die inneren Kerne der Städte konsolidieren werden.

Wie können wir uns das Berlin der Zukunft vorstellen?

OSWALT: Statistisch gesehen stagniert Berlin. Im Großraum gibt es einen leichten Anstieg, die Stadt selber hat verloren.

Sie sagen, das eigentliche Baugeschehen im Berliner Umland findet ohne Planung statt. Was ist da passiert in den letzten Jahren?

OSWALT: Es sind dort über 100 000 Einfamilienhäuser entstanden, jede Menge Shopping-Center, Großraumdiscos, Möbelgroßhäuser, Gewerbeparks, Freizeitanlagen, Produktionsstandorte.

FERGUSON: Eine durchaus übliche Entwicklung. Die Tendenz, aus der Stadt rauszuziehen, ist ja nichts Außerordentliches.

OSWALT: Und für Berlin eine nachholende Entwicklung. In West-Berlin war es nicht möglich und im Sozialismus hat es das nicht gegeben. Insofern wurde im Turbotempo nachgeholt, was in den westlichen Industrieländern üblich ist. Ein bisschen dumm daran ist, das man eine Chance gehabt hätte, aus den Erfahrungen zu lernen und vielleicht mal eine andere Politik zu versuchen. Aber das fand nicht statt. In Frankreich haben wir gesehen, dass die Peripherien auch zum Schauplatz von sozialen Unruhen werden können.

Ist die Architektur schuld an dieser Entwicklung?

FERGUSON: Die Ausschreitungen sind Ausdruck einer politischen Malaise, für die es zahlreiche Gründe gibt, aber allein der Architektur der Banlieus die Schuld zuzuweisen wäre zu einfach. Die jahrelange politische Verdrängung des Themas der Ausgrenzung und Diskrimininierung der ausländischen Minderheiten findet jedoch heute seinen stärksten Ausdruck in der städtebaulichen Realität der Banlieus. Einige Architekten in Frankreich beschäftigen sich seit langem mit der Problematik der monofunktionalen Wohngebiete, die Ergebnis der verfehlten Planung der 60er und 70er Jahre sind. Der Sozialbau dieser Zeit stellt sich vielerorts als gescheitert dar.

OSWALT: Und das im Jahr 2003 aufgelegte städtebauliche Programm des “Plan Borloo” ist völlig verfehlt, da es trotz der existierenden Wohnungsknappheit die Zerstörung von 250 000 Wohneinheiten in den nächsten Jahren vorsieht. Ebenso unsinnig sind die nach den Ausschreitungen hektisch aufgelegten Verhübschungsprogramme. In den Städten werden die gesellschaftlichen Konflikte sichtbar, aber es wäre ein Irrglaube zu meinen, dass ihre baulichen Strukturen diese verursachen.

Kann man den Prozess global so beschreiben, dass sich an den Rändern, in den Speckgürteln, die Entmischung verstärkt – in abgeschottete Siedlungen, sogenannte Gated Communities einerseits, Banlieues und Slums andererseits -, während die Innenstädte zunehmend privatisiert und historisiert werden im Sinne eines Austragungsortes für Spektakel?

FERGUSON: Eine bestimmte Bevölkerungsgruppe wird immer gern im Zentrum des Geschehens leben wollen. Zum Phänomen der Gated Communities lässt sich sagen: die Vereinzelung und Isolierung hat sich besonders in Europa in den Randgebieten der Städte stark bemerkbar gemacht. Es gibt aber auch entgegengesetzte Tendenzen, etwa außerhalb von Stockholm, wo seit den 40er-Jahren mit viel Grün, Parks und Plätzen ein extrem attraktives Umfeld geschaffen wurde. Dort merkt man, dass die Menschen eigentlich das Städtische durchaus schätzen, und man nur entsprechende Konzepte entwickeln muss.

OSWALT: Die Polarisierung gibt es – man sollte vielleicht eher fragen, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht. Meines Erachtens gibt es eine gesellschaftliche Verantwortung, einer Vergrößerung der Kluft entgegenzuwirken. Wir wissen, dass Arm und Reich auseinanderdriften, die Wohlstandsschere innerhalb der Gesellschaften sich öffnet. Was sich sozial abspielt, spiegelt sich im Raum wieder. Die USA sind da immer das Extrembeispiel. In Detroit hat man in der City die ärmsten und am Rand die reichsten Stadtteile der USA nebeneinander, ein extremer Kontrast. Tendenziell entwickelt sich Europa ähnlich, auch wenn wir derzeit noch viel stärkere Ausgleichsmechanismen haben und auch in Zukunft haben werden.

Was soll falsch daran sein, in sicheren Gated Communities leben zu wollen? 

OSWALD: In unserer Untersuchung war es schon sehr frappierend zu sehen, was da an neuen Formen entsteht, etwa in der Region Manchester/Liverpool. Statt Gated Communities nennt man es dort “Neighbourhood Watch Areas”. Es gibt kein Tor, aber eine Sackgasse, durch die man die 80 Häuser erreicht. Die Einwohner fühlen sich sicherer, und man passt aufeinander auf. Unter Soziologen wird durchaus diskutiert, inwieweit man hinnehmen muss, dass sich bestimmte Lebensformen voneinander separieren. Man muss ja nicht auf der kompletten Durchmischung bestehen. Dann taucht natürlich das Problem auf, das Francesca angesprochen hat: Wir wollen eben nicht, dass sich alles aufsplittert in Enklaven. Aus dem europäischen Anspruch heraus wollen wir Orte haben, wo es zur Konfrontation von Unterschiedlichem kommt, wo unterschiedliche Lebensformen, Arm und Reich sich begegnen.

Das sind klassischerweise die öffentlichen Räume in den Städten. Womit wir wieder bei der Frage wären: Wo sind diese öffentlichen Räume heute? Gibt es sie in der Zwischenstadt? Können die Innenstädte diese Funktion erfüllen? In Ostdeutschland werden mittlerweile zwei Drittel der Einzelhandelsumsätze in Centern auf der grünen Wiese gemacht. Auch in Berlin werden immer neue Einkaufszentren gebaut. In Frankreich dagegen werden überhaupt keine neuen Hypermarchés mehr zugelassen.

OSWALT: In Ostdeutschland ist in den 90er-Jahren sehr viel schief gelaufen. Erst ist der Einzelhandel rausgezogen und dann die Leute. Das hat mit Eigentumsproblemen, mit politischen Problemen, mit mangelnder kommunaler Abstimmung zwischen den Kleinstädten und dem Umland zu tun. An manchen Standorten wie Leipzig oder Weimar gelingt es mittlerweile, nicht nur Einwohner, sondern auch Geschäfte zurück in die Stadt zu holen. Ein verhaltener Trend, denn es gibt ja heutzutage einen enormen Preisdruck, der die Händler und Käufer aus den Städten treibt.

FERGUSON: Für mich geht es um baukulturelle Werte. Irgendwann muss man sagen: Jetzt gibt es genug Einkaufszentren. Dafür scheint Berlin kein Gespür zu haben. Es werden immer wieder solche überdimensionierten Konsumpaläste gebaut.

OSWALT: Nehmen wir nur die Neubebauung am Alexanderplatz mit dem “Alexa”-Center. Das, was da an Shopping geplant ist, wird die Frankfurter Allee und die Landsberger Allee einfach leerfegen.

FERGUSON: Was fehlt, ist ein visionärer und ganz dezidierter Umgang mit dem Thema Kommerz. Statt dessen wird nur knallhart nach wirtschaftlichen Kriterien entschieden. Die führen oft zu Leerständen in den Innenstädten. Clubs und Plattenlabel, die zeitweilig dort einziehen, dürften kaum die Lösung sein.

OSWALT: Jedenfalls entsteht eine neue Vielfalt. In Leipzig wie in Detroit oder Manchester finden wir in Lagen, die ursprünglich relativ dicht besiedelt waren, heute zum Beispiel Reihenhäuser, Einfamilienhäuser. Es gibt Landwirtschaft in innerstädtische Lagen, sogar die Bewaldung vormals besiedelter Räume. Das sind neue Elemente im städtischen Gefüge. Dazu gehört auch kulturelle Zwischennutzung. Und da kommt die Standortkonkurrenz ins Spiel. Alle setzen auf das gleiche Pferd und versuchen hip zu sein: Abschied von der Industriegesellschaft, stattdessen Kultur, Neue Medien und so weiter.

FERGUSON: Berlin scheint dafür immer noch ein Vorbild abzugeben. Ich merke, dass andere Städte wie München oder Stuttgart das fasziniert, sie versuchen, es auf ihren städtischen Kontext zu übertragen. Ein Stadtbild, das geprägt wird von jungen Selbstständigen, kleinen Zwei-Mann-Betrieben, Grafikern, Designern oder Architekten, die sich sichtbar machen wollen. Durch die vielen Leerstände nach der Wende hatte man die günstige Situation in Berlin, selbst die Initiative ergreifen und für billige Mieten, teilweise für die reinen Betriebskosten Räume zur temporären Nutzung in Besitz nehmen zu können. Ein lebendiges Netzwerk von freien Produzenten verschiedener Disziplinen in der Stadt, viel prominenter wahrgenommen, als es der wirtschaftlichen Gesamtsituation entspricht.

OSWALT: Leipzig wirbt jetzt mit dem Slogan “Studentenjahre sind Herrenjahre”, der sagen soll: Bei uns gibt es großartige Gründerzeitwohnungen für einen Spottpreis. Das ist genau die Positionierung von Berlin.

FERGUSON: Momentan gibt es nicht nur in Europa einen starken Wettbewerb zwischen Städten als Wirtschaftsstandorten. Alle versuchen, sich von ihrer Industriegeschichte zu lösen und ein neues Leitbild zu formulieren. Meist wird dann der Design- oder Neue-Medien-Standort propagiert. Es wird zunehmend schwierig, eine kulturelle oder wirtschaftliche Vision zu formulieren, die wirkt wie ein Magnet. Deshalb sind diese Ranglisten, die die Lebensqualität einer Stadt anhand objektiver Kriterien definieren wollen, nicht unbedingt aussagekräftig. Berlin schneidet dabei im europäischen Vergleich immer schlecht ab, so an 15. oder 20. Stelle, trotzdem gibt es immer noch einen starken Zuzug bestimmter Gruppen.

OSWALT: Jeder kennt Leute, die etwa aus London nach Berlin kommen und sagen: Hier kann ich besser leben, denn ich brauche nicht so viel Geld und habe dadurch mehr Freiraum. Wirtschaftlich macht sich diese Klientel kaum bemerkbar. Eine Studie der Bertelsmannstiftung sieht Berlin ökonomisch auf dem vorletzten Platz aller Bundesländer und weiter ins Hintertreffen geraten. Aber scheinbar hat man Wege gefunden, sich damit zu arrangieren.

FERGUSON: In den letzten Jahren hat es wenig bis gar keine Großinvestitionen gegeben. So wie man die Stadt beschreibt und touristisch auch verkauft, geht es offensichtlich um den Slogan “Arm aber sexy”, den Klaus Wowereit letztes Jahr auf dem Städtetag verkündet hat. Es ist zwar eine Floskel, aber letztendlich stimmt sie.

OSWALT: Durch das Nazi-Regime und seine Folgen hat Berlin seine ursprüngliche Funktion als Zentrum des Landes komplett verloren. Durch den starken Föderalismus, das dezentralisierte System gibt es eine starke Verlagerung der Funktionen. Berlin hatte während der deutschen Teilung eine Sonderrolle inne. West-Berlin wurde künstlich am Leben erhalten und als Schaufenster des Westens sehr stark subventioniert. Ost-Berlin war das politisch-administrative Zentrum der DDR. Beides ist weggebrochen. Ostdeutschland braucht Berlin nicht mehr als zentralen Dienstleistungsstandort, dafür sind Leipzig und Dresden viel zu eigenständig; die Subventionen sind gestrichen, und um die Funktion einer Hauptstadt zu erfüllen, braucht es keine dreieinhalb Millionen Einwohner. Bonn hatte auch nur 200 000. Da ist Berlin weiterhin auf einer ökonomischen Sinnfindung, und das wird wahrscheinlich noch Jahrzehnte so weitergehen. Auch die schnelle Hoffnung auf eine Funktion als Tor nach Osteuropa hat sich bislang nicht erfüllt.

FERGUSON: Die Politik hat das überhaupt nicht betrieben. Es ist unglaublich, was alles trotz EU-Erweiterung nicht passiert ist.

OSWALT: Ich habe in Cottbus unterrichtet: Polen ist 25 Kilometer entfernt, und die Mehrzahl der Studenten war noch nie da. Das ist in Berlin nicht anders. Die Züge kommen von Westen und enden am Ostbahnhof. Es gibt kaum eine mentale und praktische Orientierung nach Osten, was vollkommen absurd ist. Das ist auch ein Problem der politischen Elite. Wowereit ist ein typischer West-Berliner. Die haben dieses Inseldasein gelebt und kaum internationale Erfahrungen gemacht.

FERGUSON: Für die heute Nachwachsenden ist eine Thailand-Reise wichtiger, als Polen zu entdecken. Es ist ein großes Versäumnis für Berlin, dass man diese Qualitäten, die unmittelbar vor der Tür liegen, nicht artikulieren, nicht entdecken kann. Statt dessen belässt man es bei Floskeln wie “arm aber sexy”. Das ist ein oberflächlicher Effekt.

Was wäre die Alternative?

FERGUSON: Sich nicht nur mit diesem Slogan zu schmücken. Das Kleinteilige, die informellen Entwicklungen bräuchten mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung durch die Stadtpolitiker.

Ist dieses prototypisch Berlinerische bedroht, jetzt, wo Berlin zur Fußballweltmeisterschaft herausgeputzt wird?

OSWALT: Man sollte die Wirkung eines solchen Events auf eine so große Stadt nicht überschätzen. Es wird einiges passieren, was einem nicht gefällt. Berlin hat die 90er-Jahre ganz gut ertragen – selbst wenn da städtebaulich viel Mist passiert ist. Es wird auch die WM ganz gut hinter sich bringen. In meiner Wahrnehmung gehen die Berliner damit sehr gelassen um.

FERGUSON: Die Räumungen von besetzten Häusern haben ja auch längst stattgefunden, das große Aufräumen ist bereits vorbei.

In der Berliner Zeitung.

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