Von Holm Friebe, erschienen am 11.01.2000 in der Berliner Zeitung.
Nach der Party waren alle noch ziemlich verstrahlt und es gab Hardcore-Fernsehen, bis niemand mehr konnte: “James Bond 007 in tödlicher Mission” und “Stirb langsam jetzt erst recht”. Da war es schon wieder Mitternacht und die Reste der Party noch nicht ansatzweise ausgetrunken. Wir können ja das Lexikonspiel spielen, kam der rettende Vorschlag. Au ja, Lexikonspiel! Es wurden noch ein paar Mitspieler herantelefoniert und bald saßen wir wieder zu zehnt um den großen Tisch. Bis vor ein paar Jahren habe ich alle Gesellschaftsspiele ausnahmslos gehasst. Seit das Lexikonspiel in mein Leben getreten ist, bestätigt die Ausnahme die Regel. Das Lexikonspiel geht so: Man nimmt sich ein Konversationslexikon vor, am besten ein altes, und jemand sucht einen Begriff aus, den niemand kennt. Danach schreibt jeder eine ausgedachte, der Raussucher jedoch die richtige Definition auf einen Zettel; die verschiedenen Definitionen werden vermischt und dann in der Runde verlesen. Jeder Mitspieler muss einen Tipp abgeben, welchen Vorschlag er für den zutreffenden hält, oder einfach nur denjenigen wählen, der ihm am besten gefallen hat. Der Mitspieler, dessen Definition die meisten Stimmen erhält, bekommt einen Punkt, wer den richtigen Vorschlag gewählt hat, bekommt einen Punkt, und, falls der richtige Vorschlag von niemandem gewählt wird, bekommt auch der Raussucher einen Punkt. In Großbritannien gibt es angeblich sogar eine Fernsehsendung, die auf der Idee beruht, aber dort ist “Nonsens” ja auch bereits Pflichtfach in der Grundschule. Neulinge hier zu Lande denken meist, es handele sich um ein Angeber-Spiel für intellektuelle Schreiber und Klugscheißer, was partiell sogar stimmen mag. De facto gewinnen aber immer die anderen, die, die vorher von sich behaupten, “ganz schlecht in so etwas zu sein”. Irgendwann, wenn alle ordentlich angefixt und Partyreste im Spiel sind, ist es aber auch völlig egal, wer am Ende gewinnt. So auch in jener langen Nacht, die mit “Dick-Read” begann. Wer hätte gedacht, dass es sich dabei tatsächlich um einen Gynäkologen (“1890-1956″) handelt, der die “körperlich-seelische Vorbereitung von Schwangeren auf eine schmerzarme Geburt” propagierte, und nicht um eine “Art der unechten Firmenverschmelzung, bei der Firmenanteile getauscht werden, jedoch im Depot der Mutterfirma verbleiben”? Es folgte: “Marent”, was wahlweise “obsolet, heute: Leihmutter” heißen konnte (falsch) oder “Schweizerdeutsch: Zwischenmahlzeit” (richtig). Für “Mofette” war im Angebot unter anderem: “mittelalterliches Wort für Gefrierbrand” und “pelziges Accessoire aus der Barockmode, ins Deutsche eingegangen als ,Muff “, aber auch “(französisch) junge Frau, die ihre Hilfsbedürftigkeit unnötig zur Schau stellt”. Letztere Definition gab einen Sonderpunkt, weil sie allen so gut gefiel. Des Weiteren kam aufs Tapet: “Felbel”, was hätte sein können ein “militärischer Rang, der quasi keine Funktion hat, abgesehen von der Ausübung von Autorität”, ebenso wie “Strickpulli mit zu langen Ärmeln”. Dicht gefolgt wurde “Felbel” von “Gösch”, einem “schwedische(n) Gesellschaftsspiel, bei dem die Teilnehmer nicht genau wissen dürfen, worum es geht, und der Einsatz immens hoch ist”, beziehungsweise plausibler, aber genau so unzutreffend einer “Konvektionsheizung, gebräuchlich in der Steiermark, mit einem zentralen Ofen in der Küche und Warmluftschächten in die zu beheizenden Zimmer”. Die Welt des lexikographischen Halbwissens, das wird an dieser Stelle hoffentlich deutlich, ist eine sehr spezielle mit einem eigenen Charme. Wie im richtigen Leben kommt es oft auf den puren Gestus an, mit dem der größte Unfug überzeugend vorgetragen wird. Und was um alles in der Welt ist noch einmal ein “Krümper”? Logisch, “niederhochdeutsch: Gegenstand, der eher lang als breit ist”. Andererseits: “österreichisch: Kaninchenbock, im übertragenen Sinne: Playboy” ist einfach zu schön, um nicht wahr sein zu können. Gegen halb sieben Uhr morgens befiel uns “Inönü”, ein “schlecht schmeckender Seelöwe”, oder doch wohl eher “(medizinisch) die Unfähigkeit, sich in Wort und Schrift verständlich zu artikulieren”, und wir gingen ins Bett. Was Gösch, Mofette, Felbel, Krümper und Inönü in Wirklichkeit bedeuten, habe ich komplett vergessen. Das ist das Gute am Lexikonspiel, dass man nichts Sinnvolles dabei lernt, davon aber eine ganze Menge.