Kneipe als Weg

Nightlife in den Sechzigern und Neunzigern ist vorbei. Jetzt schmeißt Schorsch Kamerun in der “Palette” eine Lokalrunde. Von Holm Friebe, erschienen am 31.05.2000 in Jungle World.

 

Hamburg ist ein soziales System mit traditionell nur geringen Freiheitsgraden. In kaum einer anderen Stadt spielen soziale Herkunft und Destination eine so große Rolle. Die Nachfahren der Pfeffersäcke sind die Barbourjacken-Popper und Werber, die, wenn sie nicht gerade auf Sylt sind, in ihren jeweiligen Lokalen abhängen. Auf der anderen Seite die Underdogs, Proleten, Gammler und Bahnhofs-Junkies. Und um das alles ertragen zu können, hat man das Meer vor die Tür gebaut, den Hafen und St. Pauli, die allesamt den Mythos von “Großer Freiheit” und (sozialer) Mobilität speisen.

 

Im Siebziger-Jahre-Film “Moritz, lieber Moritz” von Hark Bohm kommen die drei Elemente zusammen: Der Reedersohn Moritz trifft ein Mädchen, das auf einem Schiff wohnt und ihn mit einer Rockband in Verbindung bringt, die in einer Hafenkneipe probt. Beim ersten gemeinsamen Auftritt wird Moritz von seinen Popper-Klassenkameraden vermöbelt, weil er das soziale Paradigma verletzt hat. Das ist Hamburg in einer Nuss-Schale und in Reinform. Und noch etwas kommt hinzu: Die Kneipe als Weg.

 

Das Boheme-Konzept ist der wirksame Gegen-Mythos zur deprimierend langweiligen Story von der Vorherbestimmtheit. Dazu gehört das originär Hamburgische Konzept von der Semi-Prominenz, bei dem assoziativ auch ein wenig Halbseidenes und Halbwelt mitschwingt. Semi-Prominenz meint, man ist ein bisschen Pop-Star, aber nicht so, dass es unangenehm wird, und man ist ein bisschen “runtergefuckt” – ein Wort von Rocko Schamoni, einem der prominentesten Semi-Prominenten Hamburgs -, aber nicht so, dass es bedrohlich wird. Boheme ist, wenn Intellektuelle Prolls spielen und umgekehrt.

 

Dass es dabei natürlich den einen oder anderen wirklich aus der Bahn haut, macht den Reiz des Spiels aus. Die zugehörigen Läden in Hamburg hießen “Golden Pudel Club” und “Kamers Tanzcafé”, heute “Astra Stuben” und “Mutter”. Die “Mutter” ist ein undefinierbares Kellerlokal, mit Versatzstücken der Fünfziger, Sechziger und Siebziger, das von ebensolchen Jahrgängen frequentiert wird. Über dem Gang zu den Toiletten steht “Söhne + Töchter”, was die Eingangsthese belegt, auch und gerade weil es natürlich ironisch gemeint ist.

 

Was heute die “Mutter” oder der “Pudels” sind, war in den frühen Sechzigern die “Palette”, die der bisexuelle Bohemien Hubert Fichte mit dem gleichnamigen Roman literarisch verewigt hat. Er erzählt leicht melancholisch die Geschichte einer Szene und ihrer Insassen, den “Palettianern”, am Vorabend der Studentenbewegung als Geschichte eines Ladens für Semi-Prominenz, der von Außenstehenden nur als Gammlertreff wahrgenommen wurde. Kurz vor der Schließung durch die Polizei 1964 schrieb die konkret über die “Palette”: “Die Palette besteht aus drei Räumen. Sie erinnern an die verschiedenen Kammern einer Sickergrube. Im ersten dominieren Theke und Musikbox. (…) Das Bouquet der Paletteluft ist aus Roth Händle, Exportbier und Magensäure komponiert. Im zweiten Raum hat sich die Anzahl der Krawatten schon erheblich verringert. (…) Wie der Name des Lokals verspricht, sind alle Typen hier schon bunter gemischt. Der letzte Raum ist am spärlichsten eingerichtet. Er erinnert – nicht ohne Grund – an eine Zelle für Idioten im aggressiven Stadium.”

 

So sah das aus, damals. Und so hat es auch Fichte beschrieben. Jäcki heißt seine farblose Hauptfigur, bei der die “Palettianer” einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen: der Halbweltfürst Raimar, die Trippersusi usw. Nicht ganz so hat es jetzt Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen und Mitbegründer des “Pudels”, auf die Probebühne des Hamburger Schauspielhauses gebracht: eine eher klassische Inszenierung, die sehr viel vom heutigen Theater und sehr wenig von der Nervigkeit des Zitronen-Aromas verströmt. Das stylisch-unterkühlte Sixties-Bühnenbild hat wenig mit dem in konkret beschriebenen Interieur gemeinsam. Die ursprünglichen Palettianer hat Kamerun kontrastiert mit den “Schönen”, in Pastell gekleidete Popper-Nazi-Pärchen, die sich im Hintergrund artig die Zähne putzen, während vorn der Wahnsinn des sexuell transgredierenden Nachtlebens tobt. Außerdem gibt es die Figur des ideellen Gesamtspießers, verkörpert vom linken Urgestein Thomas Ebermann. In einer aus haarsträubenden Originalzitaten collagierten Ansprache bildet Ebermann die Miefigkeit der Zeit ab und fällt ein wenig aus dem Rahmen.

 

Und was will uns das Ganze bedeuten? Die tiefere Bewandtnis ist wohl die historische Parallelisierung: die Sechziger als Neunziger. Es geht – natürlich – um Hamburg, um Semi-Prominenz und darum, dass ein Kapitel des Nachtlebens einfach mal vorbei ist. Um das zu verstehen, muss man vielleicht wissen, wer Kamerun ist, dass der Tagesschausprecher auf dem Dia und die Off-Stimme Rocko Schamoni ist und dass der Darsteller mit dem spackigen Pelzmantel Jens Rachut von Dackelblut ist. Das eigentliche Stück fand sowieso nach der Premiere in der Kantine statt, als noch Jochen, Rocko und sogar Rainald reingefeatured kamen, wie es im Stück heißt.

 

“Dead School Hamburg” hieß die letzte Platte von den Zitronen von 1998. Jetzt geht es um die Nachlassverwaltung, historische Kontextualisierung und darum, was als Nächstes kommt. Wenn die Parallele stimmt, müsste es ja eigentlich was Großes werden, aber das bleibt abzuwarten. Erst mal geht es um Verständigung darüber, was das eigentlich war: die Neunziger in Hamburg. Die dabei waren, können berichten. Auch Schamoni hat in seinem neuen Buch “Risiko des Ruhms” ein milde ironisches Kapitel: “Die Hamburger Schule – eine deutsche Geschichte”.

 

Es beschreibt die Anfänge, wie sie sich so sicher nie zugetragen haben: eine Bande von Tölpeln, die 1987 in einer Hamburger Kneipe ein stark vereinsmeierisches Manifest mit strengem Dresscode verfassen, wie es sie wahrscheinlich zu Hunderten auch in der “Palette” gegeben hat. Blumfelds Jochen Diestelmeyer lässt er darin schwadronieren: “Die Zeit der Grabenkämpfe ist vorbei, wir müssen unsere sensitive Produktivität bündeln, intellektuelle Zärtlichkeit kann als Waffe ungemein klärend wirken, legen wir uns auf den Bogen und schießen wir uns selber ab!” Sich selber abschießen, bevor es die anderen tun – das ist so ungefähr auch der Subtext von “Palette”. Dazu passt, dass am vergangenen Samstag auf Kampnagel “Hamburger Schule – Das Klassentreffen” stattfand: Die echt authentisch schmierige Tanzkapelle Hanseatic Diamonds spielte Huah!, Tocotronic, die Regierung und andere nach. Noch einmal mit Schamoni zu sprechen: “Alter, wie geil war das denn?!”

 

“Die Palette”. R: Schorsch Kamerun, B: Nina Wetzel, Musik: Mouse on Mars. Mit: Peter Brombacher, Thomas Ebermann, Andreas Grothgar, Jens Rachut Deutsches Schauspielhaus, Hamburg

 

In Jungle World.

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