Ypsilon und Berlin

Von Holm Friebe, erschienen am 12.12.2002 in der Berliner Zeitung.

 

Berlin nimmt Abschied von einem ungewöhnlichen Mann: Christian Y. Schmidt, seines Zeichens Stalinist, notorischer Grantler und Autor (unter anderem für diese Rubrik). Nur gut vier Jahre währte die ungleiche Beziehung zwischen ihm und der Stadt. Als Schmidt im Juni 1998 nach Berlin kam, war das jedoch der Höhepunkt einer langen Annäherung. Er wolle “die Stadt volley nehmen”, wie der bekennende Tennis-Fan damals bei seiner Ankunft vom mit Palmzweigen dekorierten Möbelwagen herunter verkündete. In Frankfurt, wo der gebürtige Bielefelder, Ältestes von vier Geschwistern, einige vergebliche Jahre in der Redaktion eines einschlägig bekannten Satiremagazins verbrachte, war dieser Versuch gründlich fehlgeschlagen. Liest man seine Artikel aus jener Zeit nach, macht sich hinter dem gepresst Ulkigen eine abgrundtiefe Verzweiflung bemerkbar, die regelmäßig in völlig unironisches Schimpfen und Nörgeln abrutscht. Keine Frage: Fürs Humorfach war Schmidt ebenso wenig geboren wie für eine Stadt wie Frankfurt. Dafür trat nun ein Zug zum Höheren immer deutlicher zu Tage. Berlin und das neue Zwischeninitial sollten die Wende bringen. Und die war vorbereitet: Schon im Vorfeld hatte Schmidt alles Greifbare über die damals virulente “Generation Berlin” studiert, die sich durch hohe Decken und einen unverkrampften Umgang mit der jüngeren deutschen Geschichte auszeichnete und der er sich von Stund an zu assimilieren gedachte. Außerdem verfügte er über ein Wörterbuch mit angeblichen Redewendungen der sprichwörtlichen Berliner Schnauze, dem er Sätze entnommen hatte wie “Gleich hau ick dia mitm Jesangbuch uffn Deez, ditta de Text de Backen runterlooft!” Kein Wunder, dass Schmidts Einstand in Berlin zunächst hinter den Erwartungen zurückblieb. Die ersten Wochen, in denen Ypsilon, wie er sich nun nannte, jeden Abend im Kudorf oder im Big Eden anzutreffen war, wo er sich mit Apfelkorn und gespritztem Sauren voll laufen ließ und jungen Touristinnen nachstellte, gehören wohl zu den düstersten Episoden seiner Biografie. Von da an ging es jedoch stetig aufwärts. Freunde besorgten ihm eine schicke Loftwohnung im aufstrebenden Szenebezirk Kreuzberg und führten ihn in die Gesellschaft ein. Bald speiste Ypsilon im Borchardt am Tisch neben Franz Josef Wagner und nahm seine Rum-Cola im Cookies ein, von wo er (wenn es spät geworden war und draußen schon hell wurde) manchmal Frauen mit sehr langen Beinen mit zu sich nach Hause nahm. Eine der wohl schillerndsten Episoden mit ihm erlebte ich im Zuge unserer gemeinsamen Arbeit für eine Literatursendung auf MTV, in die uns Ypsilon dank seiner inzwischen zahlreichen Connections temporär eingeschleust hatte. Weil ohnedies feststand, dass die Sendung abgesetzt würde, konnten wir dort so ziemlich machen, was wir wollten und hatten sehr viel Spaß. Nach einer Aufzeichnung landeten wir zusammen mit dem Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre und dem diesmaligen Gast Robert Gernhardt in Ypsilons Dachgeschosswohnung. Ypsilon versorgte uns mit Alkohol und einer legalen pflanzlichen Droge namens “Tanzender Schamane”, die einzig der weise Gernhardt dankend ablehnte. Dafür erzählte Gernhardt, wie der damals noch Schmidt Genannte in Frankfurt bei ihm zur Untermiete wohnte und lediglich der einen Aufgabe nachkommen sollte, das Treppenhaus sauber zu halten. Allein anhand einer riesigen toten Fliege, die über mehrere Monate auf dem Fensterbrett lag, habe man feststellen können, dass Schmidt selbst diese einzige Pflicht vernachlässigte. Tagtäglich im Angesicht der Fliege habe er, Gernhardt, sich gefragt, wie er es ihm, Schmidt, wohl beibringen solle. Stuckrad-Barre, dessen Hauptaktivität schon in der Sendung darin bestand, Dinge vom Blatt nachzuspielen, fand dies so lustig, dass er sofort die Fliege sein wollte. Beinahe wäre er dabei vom Fensterbrett im fünften Stock auf die Straße gefallen. Der Gastgeber indes lies alles strahlend und voller Langmut geschehen und versetzte “Dit is Jeneration Ballin, wa?!” Tatsächlich hätte man in dem Moment meinen können, Schmidt alias Ypsilon sei dort angekommen, wo er immer hinwollte. Umso unverständlicher, dass er jetzt Berlin verlassen und nach Malaysia ziehen will, um dort zusammen mit einer chinesischen Investmentbankerin eine Import-Export-Firma zu gründen. Er wird hier fehlen.

 

In der Berliner Zeitung.

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